Süddeutsche Zeitung

Neues Schulfach:Hier lernen Schüler, in Ruinen und Steinhaufen zu lesen

Lesezeit: 3 Min.

Von Anna Günther, Regensburg

Das Kapitol in Washington und ein pinkfarbenes, gekochtes Ei haben nichts gemeinsam? Falsch! Richtig ist: Die Gründung Roms. Jeder, der irgendwann in der Schule Latein lernte, kennt den Spruch: "Sieben, fünf, drei: Rom schlüpft aus dem Ei". André Löffler hält das Ei in die Luft, die Arme seiner Schüler strecken sich, ein Mädchen sagt das Sprüchlein auf. Die zwölf Schüler des Regensburger Albertus-Magnus-Gymnasiums (AMG) sind seine Sprünge vom Alltag in die Antike gewöhnt, viele lernten bei ihm Latein und Altgriechisch. "Bögen schlagen", sagen sie dazu. Und wie schlagen die Elftklässler den Bogen aus dem Archäologiekurs nach Washington? Über Architektur.

Das Kapitol in Washington ist benannt nach dem Machtzentrum im antiken Rom. Damit wollten die Erbauer um Thomas Jefferson und George Washington die republikanische Tradition betonen, in der sich die jungen USA schon um 1800 sahen. Kaum eine Republik war für Amerikaner und andere Nationen so groß wie das antike Rom. In dieser Archäologiestunde soll es um die Anstrengungen großer Mächte gehen, sich als größte Völker unter der Sonne zu legitimieren.

Mit Mythen oder mit Baudenkmälern. Dem Mittel aller Hochkulturen, und derjenigen, die sich als solche sahen, um Macht zu demonstrieren, Zeitgenossen Ehrfurcht einzuflößen und die eigene Bedeutung für die Nachwelt zu betonieren. "Aber die Amerikaner haben einen Fehler gemacht", sagt der Lehrer André Löffler. Die Schüler erkennen rasch, welchen. Doch dazu später.

Seit diesem Schuljahr bringt Löffler den Elftklässlern bei, in Ruinen zu lesen, erzählt ihnen von Ausgrabungen, die mehr über das Leben im antiken Rom und in Griechenland erfahren lassen. Dinge, die im Latein- oder Griechischunterricht nur gestreift werden. "Aber hier sollen die Schüler ihre Interessen ausleben, hier will ich keinen Notendruck", sagt er. Das klappt offenbar: Draußen steht die Luft, in der Pause gibt es auf den Fluren nur ein Thema - kommt die Hitzefrei-Durchsage? Der Archäologiekurs ist trotzdem hoch konzentriert.

23 Gymnasien in Bayern bieten Archäologie als Profilfach an. Mit der Oberstufenreform wurde 2009 ein neuer Lehrplan erstellt und das Fach in den Katalog der Profilfächer aufgenommen. Mit Archäologie sollen Schüler das Wissen aus Geschichte, Latein und Griechisch ausbauen, heißt es aus dem Ministerium. Außerdem hofft man, Jugendliche für Bodendenkmäler und Denkmalpflege zu sensibilisieren.

Am AMG sind diese zwölf Schüler nach Jahren Pause wieder die ersten, die auf den Spuren berühmter Archäologen wandeln. Den Stoff musste André Löffler sich weitgehend selbst beibringen, Fortbildungen für Lehrer sind selten. Griechen und Römer kennt er gut, er war privat oft in Rom und am Golf von Neapel. Löffler, 38, Typ Fußballer, brennt für alte Sprachen, besonders für Altgriechisch. Im Lateinstudium entdeckte er die Sprache für sich.

Mittlerweile unterrichtet er neben seinen Schülern auch Studenten. "Ich versuche, die Begeisterung für die Sprache weiterzugeben - das muss man auch, um sie am Leben zu halten", sagt Löffler. Derzeit lernen 3100 Schüler in Bayern Altgriechisch. Am AMG scheint ihm die Begeisterung zu gelingen: Auf die Frage, wieso sie Archäologie wählten, nennen mehrere Schülerinnen den Lehrer als Grund. Er winkt ab, na ja, vielen habe er Latein und Griechisch beigebracht, das präge vielleicht.

Auch die Exkursionen lockten, einmal sehen, was jahrelang nur im Klassenzimmer stattfand. Im April war Löffler mit den Jugendlichen in Rom. Im Herbst geht es nach Pompeji und Herculaneum. "Es ist toll, sich mit Kultur und Philosophie der Römer zu beschäftigen, ohne übersetzen zu müssen", sagt Mariana, 17. "Rom war sehr interessant, und Herr Löffler hat immer Bögen zur Gegenwart geschlagen", sagt Katharina, 17. "Und zu jedem Steinhaufen eine Geschichte erzählt", ergänzt Mariana.

Die USA orientierten sich an den Römern, die an den Griechen, die an...

Nach vier Tagen mit Steinhaufen, Museen und Bauten erkennen die Schüler den Fehler der Amerikaner rasch: Der Sitz des Kongresses ist zwar ein klassizistischer Kuppelbau mit Säulen, aber das Capitolium in Rom war kein Gebäude wie in Washington, sondern einer der sieben Hügel. Auf diesem befand sich das Zentrum des Weltreichs: Die Burg und der Tempel der Kapitolinischen Trias, der Jupiter, Juno und Minerva geweiht war. Aber die Intention beider Völker, die eigene Größe zu demonstrieren, unterscheidet sich kaum.

Die eigene Großartigkeit unterstrichen die Römer mit Mythen: Die Stadtgründer Romulus und Remus wurden demnach zwar von der Wölfin gesäugt, gezeugt aber von Kriegsgott Mars. Ihre Stadt nannten die Römer "caput mundi", den Mittelpunkt der Welt. Sie erbauten das Machtzentrum dort auf dem Kapitol, wo ein unversehrter Kopf (lat. caput) ausgegraben wurde. Für den Geschichtsschreiber Livius ein Zeichen dafür, dass die Götter den Ort begünstigen. "Und wozu brauchten die Römer diese Mythen?", fragt Löffler. "Um mit den Griechen mithalten zu können", antworten die Schüler prompt.

Die Griechen liefern auch die Lösung eines Dilemmas: Um Bewohner in die Stadt zu ziehen, nahm Romulus Verstoßene auf. "Aber eine Stadt voller Gesindel, das Frauen raubte und deren Gründer von einer Wölfin gesäugt wurden, was auf Latein auch Prostituierte heißt?", fragt Löffler und grinst. Unwürdig. Kaiser Augustus bevorzugte Aeneas als Stammvater - und ließ in Vergils Epos gleich auch seinen Stammbaum auf den trojanischen Prinzen zurückführen. Aeneas' Mutter war die Liebesgöttin Venus. Größer geht's nicht.

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SZ vom 08.07.2017
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