Bildung:Ist das bayerische Abitur noch sicher?

Länderübergreifendes Abitur

Bei Abschlussprüfungen müssen für jeden Schüler die gleichen Bedingungen herrschen. Das ist aber nur dann sichergestellt, wenn niemand vor dem Prüfungstag die Lösungen bekommen kann.

(Foto: dpa)

Weder Lehrer noch Schüler dürfen vor den Abschlussprüfungen die Aufgaben kennen. So weit die Theorie. Der jüngste Fall eines Gymnasiasten aus der Oberpfalz zeigt die Schwächen des Systems.

Von Anna Günther

Sind die bayerischen Abschlussprüfungen noch sicher? Die Aufgaben der zentralen Prüfungen gehören zu den am besten gehüteten Geheimnissen bayerischer Schulen. Hört man sich aber nach den Auffälligkeiten am Neutraublinger Gymnasium um, stellen sich einige bayerische Lehrer und Schulleiter die Frage, ob die Aufgaben der zentralen Abschlussprüfungen ausreichend vor Betrug geschützt sind. Der Fall zeigt, wie leicht der Glaube ins System zu erschüttern ist.

Offiziell hat die Regensburger Staatsanwaltschaft die Ermittlungen in der Neutraublinger Abitur-Affäre vorläufig eingestellt. Aus Sicht der Ermittler ist ein Täter derzeit nicht feststellbar. Den Lehrern des Neutraublinger Gymnasiasten waren im Sommer die frappierende Ähnlichkeit seiner Antworten im Deutsch- und Französisch-Abitur zu den Musterlösungen aufgefallen.

Das Kultusministerium erstattete Anzeige gegen unbekannt, die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen Verletzung des Dienstgeheimnisses. Pikant an dem Fall ist, dass der Vater des Gymnasiasten selbst Schulleiter ist, so schon vor den Prüfungstagen Zugang zu den Abituraufgaben hatte - und nicht zum ersten Mal mit derlei Vorwürfen konfrontiert wird.

Im Kultusministerium betont man indes, dass "vielfältige Maßnahmen sicherstellen, dass Prüfungsaufgaben geheim gehalten werden". Welche Maßnahmen das sind, sei aus Sicherheitsgründen geheim. Diese gelten aber für alle Abschlüsse an Mittel- und Realschulen sowie an den Gymnasien. Fest steht, dass die Schulleiter die Hauptverantwortung für die Prüfungsunterlagen und die Geheimhaltung der Aufgaben tragen.

Sie müssen wie alle Lehrer zu Schuljahresbeginn melden, wenn Kinder oder Verwandte Abschlussprüfungen ablegen und werden dann im Regelfall vom Prüfungsbetrieb ferngehalten. Das regeln das Verwaltungsverfahrensgesetz und die Schulordnungen. Aber der Fall Neutraubling offenbart eine Schwachstelle: Wenn Kinder von Schulleitern den Abschluss an der Schule ihrer Eltern machen, leitet in der Regel ein vom Ministerium bestellter externer Schulleiter die Prüfungsgeschäfte. Die Klausuren des Abiturjahrgangs werden zusätzlich auch noch von dessen Fachbetreuern korrigiert.

Schulleiter müssen die Aufgaben bis zum Prüfungstag sicher verwahren

Wenn Schulleiterkinder aber an anderen Schulen lernen - wie im Fall des Neutraublinger Gymnasiasten - ist das nicht üblich. Wie bei Lehrerkindern müssen Direktoren nur versichern, sich nicht einzumischen. Überprüft wird das offenbar nicht. Dass hier eine Sicherheitslücke besteht, ist dem Ministerium wohl bewusst geworden. Wie diese geschlossen werden soll, sei noch offen, berichten Direktoren.

Änderungen im Prozedere seien angekündigt worden. Offiziell will das Ministerium abwarten, wie der Prozess vor dem Verwaltungsgericht ausgeht, bevor Konsequenzen gezogen werden. Der Neutraublinger Schüler klagt gegen den Freistaat, weil er nachträglich von den Prüfungen ausgeschlossen worden war. Geben ihm die Richter Recht, bekommt er sein Abitur. Die Entscheidung wird erst im Frühjahr erwartet.

Bildung: Die Umschläge des Kultusministeriums mit den Prüfungsunterlagen sind immer verklebt und versiegelt.

Die Umschläge des Kultusministeriums mit den Prüfungsunterlagen sind immer verklebt und versiegelt.

(Foto: SZ)

Erstellt und gedruckt werden die Prüfungsaufgaben im Ministerium. Kuriere bringen die Unterlagen einige Tage vorher in die Schulen oder an wechselnde Orte, an denen Schulleiter die Aufgaben übernehmen und bis zum Prüfungstag sicher verwahren müssen, etwa im Schultresor, auf dem Polizeirevier oder im Bankschließfach. Die Unterlagen digital zu übermitteln, wie das in Hessen oder Sachsen üblich ist, steht nicht zur Debatte. Wegen des "bestehenden sehr gut funktionierenden" Systems und Sicherheitsbedenken sei die Idee verworfen worden, sagt ein Sprecher.

Die Aufgaben könnten gehackt werden und müssten dann bereits am Vorabend ausgedruckt werden, der Zugriff wäre noch leichter. Derzeit öffnen Schulleiter am Prüfungstag vor Zeugen die versiegelten Umschläge. Theoretisch sei es aber möglich, vorher die Ministeriumssiegel abzulösen und Aufgaben samt Lösungen einzusehen, bestätigen mehrere Direktoren. Nicht jeder nehme sich in der Hektik die Zeit, jedes Siegel zu prüfen und die Unversehrtheit bestätigen zu lassen.

Wer mit Schulleitern spricht, hört keine Zweifel am System, aber großen Ärger über alle, die es manipulieren. Die einzige Schwachstelle sei der Mensch, sagt Jürgen Böhm, der Chef der Realschule in Arnstorf. "Wenn kriminelle Energie vorhanden ist, dann ist leider gar nichts mehr sicher." Er halte Monate vor den Klausurterminen im Prüfungsprotokoll fest, welche Lehrerkinder den Abschluss machen und schließe diese Lehrer vom Prozedere aus.

"Das ist eine hoheitliche Aufgabe"

Auch am Neuen Gymnasium in Nürnberg werden alle Kollegen "in Quarantäne" genommen, deren Kinder Abitur machen. "Eigentlich sollten Lehrer alles dafür tun, damit ihnen niemand etwas nachsagen kann", sagt Karl-Heinz Bruckner, der Vorsitzende der bayerischen Gymnasialdirektoren. Bis zum Sommer leitete er das Neue Gymnasium. Als seine Tochter Abitur schrieb, sei er erst in der Schule erschienen, als diese längst über den Aufgaben brütete.

Wer den Amtseid leiste, verspreche doch auch, nicht gegen die Regeln zu verstoßen, sagt Bruckner. Der Verantwortung sind sich die meisten bewusst, Sorgfaltspflicht und Selbstverständnis sind Thema jedes Gesprächs. "Das ist eine hoheitliche Aufgabe, bei der ich das Beamtentum und den Schwur auf die Verfassung wirklich gespürt habe", sagt Simone Fleischmann, die Präsidentin des Bayerischen Lehrerverbands, die zwölf Jahre eine Volksschule leitete.

Skandale sind selten. Böhm und Fleischmann können sich nicht erinnern, wann zuletzt Betrugsfälle an Real- oder Mittelschulen publik wurden. Der letzte Abitur-Skandal ereignete sich 2013 an einem Gymnasium in München. Ein Schulleiter wurde vom Dienst suspendiert, nachdem die Antworten seines Lieblingsschülers im Abitur große Ähnlichkeit zum Erwartungshorizont aufwiesen.

Aber diese Fälle wirken nach. Prüfungsaufgaben vorher rauszugeben oder Schülern Tipps zu geben, sei ein Sakrileg, sagt ein Direktor. Kollegen sprechen von Rücktrittsgrund und Disziplinarverfahren, von Schande und Berufsehre. "Das höchste Ziel ist es doch, die Jugendlichen zum Abitur zu führen, wir müssen höchste Sorgfalt walten", sagt der langjährige Leiter eines Gymnasiums. Die Schüler hätten ein Recht darauf.

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