Ein a ist nicht einfach nur ein Buchstabe. Ein a ist viel mehr, es kann ein Indiz sein. Für die meisten Bayern jedenfalls ist die Sache klar: Mass, kurzes a, wie in Masse. Zuagroaste erkennen sie daran, dass sie das so wichtige Wort gerne einmal falsch aussprechen: Maß, wie in Maße, lang gezogener Vokal. Kurzes a, langes a - fast wäre es gar nicht so weit gekommen, dass allein die Aussprache eines einzigen Buchstabens für Kulturunterschiede stehen kann.
In Bayern galt Bier lange als Gebräu. Ein Eintrag aus dem Freisinger Traditionsbuch aus dem Jahr 815 belegt die Bedeutungslosigkeit des Getränks. Dort heißt es, ein Pfarrer habe seinem Grundherren an Zins zu zahlen: "2 Scheffel Mehl, 1 Frischling, 2 Hühner und 1 Gans", außerdem "eine Fuhre Bier". Bier ist eine Naturalgabe, hiermit wird bezahlt. Allenfalls Bedienstete tranken Bier, wenn sie körperlich gearbeitet hatten. Wer etwas auf sich hält, trinkt Wein, Mönche etwa.
Doch verregnete Sommer schadeten den Reben, auf sämtliche Weine wurde Getränkesteuer erhoben. Das ist das eine. Das andere: Gerade in den Städten etablierte sich das Braugewerbe, wenn auch langsam. Bier durfte vom 14. Jahrhundert an auch außer Haus verkauft werden. Dem Bier wurde Hopfen zugefügt, manchmal auch aromatisierte Kräuter, Melisse, Lavendel, Anis, dann orientalische Gewürze oder Giftpflanzen wie Bilsenkraut und Wermut.
Mit diesen Würzzutaten angereichert, galt Bier rasch als gesundes Getränk, als medizinisch fast. Hildegard von Bingen hatte die Wirkung schon früh erkannt. Sie schreibt, dass Bier die Muskeln wachsen lasse und eine schöne Gesichtsfarbe mache. Sie empfahl das Getränk vor allem schwermütigen Menschen, es hebe die Laune und stärke die Seele. "Cervisiam bibat", heißt es in einem ihrer Werke über die Ursachen und Heilung von Krankheiten. Man trinke Bier.
Dem Liter fehlen 69 Milliliter zur "Muttermaß"
Bier wird zunächst in Humpen serviert, deren Größe variiert. Eine Mass, das ist ein halber Liter in Lauenstein in Oberfranken, eine Mass, das sind 1,6 Liter in Laufen in Oberbayern. Erst die "Allgemeine Verordnung" vom 28. Februar 1809 bereitete diesem Gewirr ein Ende. Die unterschiedlichen Volumina schadeten "dem Verzehr im Inlande" ebenso wie dem "Kommerz in das Ausland", soll heißen: dem Export.
Der Reformminister Maximilian von Montgelas verordnete, dass eine Mass fortan genau 1,069 Liter fassen sollte. Und um sicherzustellen, dass sich das gesamte Königreich dran hält, ließ er an die Landgerichte, Städte und Märkte eine "Muttermaß" versenden. "Muttermaß", das ist ein Messzylinder aus Kupfer, darauf das Staatswappen, die Jahreszahl 1809. Vorne auf dem Krug prangt: "BIER. MAAS 1809." Doch eben dieser Krug sollte "nicht zum Gebrauche" dienen, die Wirte sollten damit "abeichen". 1811 wurde die neue Maßeinheit dann ganz offiziell eingeführt. Zu diesem Zeitpunkt bestand allerdings noch keine Eichpflicht.
Der Bayer trinkt nicht, er feiert das Zusammenwachsen des Freistaats
Volle neun Jahre sollte es dauern, bis 1820 die entsprechenden "Baierischen Maßkrugs" produziert wurden, mit Henkel, mit eingezogenem Rand. Dieser Krug war nun mehr als lediglich ein Gefäß, in dem Bier serviert wurde. Er galt als Symbol für das Zusammenwachsen der Altbayern, Franken und Schwaben. Er hatte etwa 300 Einzelterritorien mit unterschiedlichen Schankmaßen geeint. So weit, so befriedet.
Doch eben jener Friede sollte nicht lange währen. Es ist das Jahr 1871, Königreiche und Herzogtümer, Fürstentümer und Hansestädte schließen sich zum Deutschen Reich zusammen. Dieser neue Nationalstaat verlangt nach einheitlichen Regeln - auch, was das Bier betrifft. Und so ersetzte der deutsche Liter fortan die bayerische Mass, sehr zum Ärger der Bayern.
Die eher antipreußische Tageszeitung Das Bayerische Vaterland wetterte: "Was man seither als Maß Bier bezeichnet, verdient den Namen nicht, es ist ein Liter." Tatsächlich passten zunächst viele Wirte ihre Preise nicht an, obwohl dem Gast immerhin 69 Milliliter fehlten. Hunderttausende Krüge mussten erst nachgeeicht werden, und das auf Kosten der Besitzer. Zehn Pfennig mussten die Wirte für jeden Literkrug bezahlen.
Zehn Pfennig, damals bekam man dafür eine Halbe. Auf manchen Krügen waren außen fortan zwei waagerechte Eichstriche eingekratzt. Der obere, der die Mass markierte. Und einer etwas unterhalb, der nun den Liter anzeigte. Erst auf neuen Krügen wurde gleich "1L" oder "L" eingeschliffen.
Erst änderte sich also das Volumen der Mass, dann das Material des Kruges. Der Krug war lange aus Ton, Keferloher genannt. Der Ton kühlte das Bier. Ein Deckel aus Zinn verhinderte, dass Tiere ins Getränk fliegen. Der Deckel war außerdem oft verziert, mit bunten Porzellanmedaillons, darauf religiöse Motive, Handwerkssymbole oder Jagdszenen. Darüber oder darunter stand oft ein weiser Spruch, "Ein guter Trunk macht Alte jung" zum Beispiel, oder "Lass ab vom Schnaps und vielem Bier, denn ein so liederliches Schwein, darf nicht zum Weib ins Bett hinein".
Die Zier hatte auch Funktion, sie diente der Unterscheidung und das war wichtig: Denn die Stammgäste ließen ihre Krüge in der Wirtschaft und konnten so beim nächsten Besuch am Deckel erkennen, welcher Krug ihnen gehörte.
Seit Anfang des 20. Jahrhunderts ist der Masskrug meist deckellos und aus Glas, das Glas hat kleine Vertiefungen. Diese "Augen" machen den Krug stabiler, manche sagen: Sie machen ihn schöner. Das Goethe Institut etwa kürte den "Standard-Maßkrug" vor einiger Zeit zum "Denkmal deutschen Designs", genauso wie die kleine blaue Nivea-Dose, das Bobby Car und die Hansaplast-Heftpflaster.
Der Maßkrug ist ästhetisch, eben weil er nicht zu gebrauchen ist
"Schönheit darf nicht zweckmäßig sein, und zweckmäßig ist der Maßkrug tatsächlich nicht", heißt es mit einem Augenzwinkern in der Begründung. Weil man ihn kaum stemmen könne. Weil man einen Liter Bier nicht so schnell trinken könne, dass auch der letzte Schluck noch schmeckt. "Der Maßkrug, liebe Bayern, ist sinnlos. Er muss also einfach schön sein."
Dass die Bierkrüge mittlerweile meist aus Glas und nicht mehr aus Ton sind, mag nicht nur der Optik dienen. Die Bedienungen dürften sich freuen, der Krug ist nun leichter, der Henkel griffiger. Und auch der Gast profitiert. Er sieht nun auf den ersten Blick, ob der Wirt auch ordentlich eingeschenkt hat.
Aus Zinn sind die Krüge nur noch zu besonderen Anlässen. Für das Oktoberfest wird jedes Jahr ein spezieller Steinkrug designt, offizielle Vorstellung, die Wiesnwirte kommen, die Brauereichefs. In diesem Jahr zieren den Krug ein Riesenrad, eine Breze, ein Wiesnherz. Ausgelassene Besucher in Tracht, viel rosa. 70 000 Stück stehen zum Verkauf, 16 Euro kostet das einfache Exemplar, 32 Euro der Krug mit Zinndeckel. Wer keine Krüge sammelt, kann daraus einfach auch nur ein Bier trinken - eine Mass, wohlgemerkt.