Berufe:Die Lokführer-Familie

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Claudia Lips, 23, steuert tonnenschwere Güterzüge, als eine von acht Frauen in Bayern. Sie scheint eine Art Gen geerbt zu haben: Vater, Mutter und Bruder stehen alle im Führerstand. Und was macht eigentlich ihr Freund?

Von Ralf Scharnitzky, München

Ein Steuer wie beim Auto wäre jetzt praktisch, um aufs Nebengleis zu lenken und einfach weiter zu fahren. Das wünscht sich Claudia Lips manchmal, wenn sie mal wieder im Weg ist und von anderen Mächten beiseite dirigiert wird. Aber ein Lenkrad ist in ihrem Führerstand nicht vorgesehen. Es würde auch nix nutzen - denn das mit dem Spurwechsel ginge sowieso nicht. Also muss sie den vorgegebenen Weg nehmen, die von der Leitstelle programmierten Weichen und Signale wollen es so. Und dann muss sie eben warten, bis der ICE überholt hat: "Wir müssen immer warten," sagt die 23-Jährige, aber es klingt nicht böse. Sie hat Verständnis, auch wenn's schon mal nervig ist: Der Personenverkehr hat absoluten Vorrang. Die Münchnerin fährt für die Bahn-Tochter DB Schenker Rail Güterzüge. Bis zu 740 Meter lange und 1800 Tonnen schwere Ungetüme in Frauenhänden - bei der Deutschen Bahn die absolute Ausnahme: Bundesweit gibt es 24, in Bayern acht Frauen im Kommandostand von Güterloks. Claudia ist im Freistaat die jüngste in ihrer Berufsgruppe.

Eigentlich wollte Claudia Lips nach der Schule Köchin werden - auf keinen Fall zur Bahn. Der Papa fährt für die DB Regionalzüge im Fränkischen. Ein Bahner in der Familie reicht, dachte sie. Da ahnte sie noch nicht, dass nicht nur sie bei der DB landen würde. Dort, wo die Schülerin ein Praktikum machte, hätte man sie eigentlich gerne als Kochlehrling genommen. Das Problem damals: Sie war noch keine 18 Jahre alt, konnte also im Schichtdienst nicht so eingesetzt werden, wie der Küchenchef es gebraucht hätte. Was also dann machen? Der große Bruder hatte sich gerade für eine Ausbildung beworben: bei der Bahn, als Lokführer. Er war genommen worden. Also zusammen mit ihm hingesetzt, die eigene Bewerbung geschrieben, abgeschickt - und kurze Zeit später der Bescheid: Sie darf zusammen mit ihrem Bruder die Ausbildung in Nürnberg beginnen.

Ladies in red: Claudia (links) und Sabine Lips auf einer 87 Tonnen schweren E-Lok. Tochter und Mutter sind Kolleginnen. (Foto: Johannes Simon)

"Eigentlich war die Bahn für mich ein rotes Tuch", sagt die 23-Jährige: "Aber inzwischen ist mein Beruf für mich Berufung." Nach der gut dreijährigen Lehre war sie allerdings auch für diesen Job noch zu jung: Also musste sie noch ein paar Jahre im Rangierdienst arbeiten, bis sie mit 21 Jahren endlich allein auf die Strecke durfte.

Heute wartet eine 87 Tonnen schwere E-Lok auf sie, die es in gut 17 Sekunden von Null auf 100 Kilometer pro Stunde bringt - ohne Last, versteht sich. Versteckt hinter langen Reihen von abgestellten Waggons steht sie auf einem Nebengleis unweit vom Münchner S-Bahnhof Berg am Laim, es gibt leichtere und ungefährlichere Wege zum Arbeitsplatz. Mit Warnweste überquert Claudia Lips an diesem Nachmittag mehrere, auch stark befahrene Gleise. Es folgt ein Gang rund um die typisch rote DB-Güterlok; schauen, ob alles okay ist. Eigentlich müsste alles in Ordnung ein, sonst würde die Lok hier nicht stehen, sondern in der Werkstatt: "Aber sicher ist sicher", sagt Claudia Lips, die in ihrem jungen Alter sehr bewusst mit ihrer Verantwortung umgeht. Im gemächlichen Tempo geht's zum Containerbahnhof Riem - immer wieder per Signal ausgebremst von S-Bahnen, Regional- und Fernzügen. Warten gehört eben zum Job eines Güterzugführers: "Fahren ist schöner. Warten schlaucht eher, aber es stört nicht." Besonders beliebt ist bei ihr der Postzug, Parcel-Zug, wie die Bahner ihn nennen: Der fährt nachts - wie etwa 80 Prozent der 5000 DB-Güterzüge, die täglich unterwegs sind. Im Postzug darf man den Regler schon mal nach oben schieben, auf bis zu 140 Kilometer in der Stunde: "Das macht echt Spaß", sagt Claudia Lips und lacht.

Die 140 sind heute auf der Strecke nach Augsburg nicht drin - höchstens 100 sind im normalen Güterverkehr erlaubt. Nach dem Ankuppeln in Riem ist der Zug knapp 370 Meter lang, hat Container von mehr als 30 Lastwagen huckepack; Waren aller Art etwa für Vera Cruz, Georgia, Havanna. Ein Container voll mit Bier einer Münchner Brauerei geht nach Baltimore. Seehafenhinterlandverkehr, mehrmals wöchentlich im Pendeldienst. Zielorte für den Zug sind die Häfen in Hamburg und Bremerhaven.

Doch erst einmal liegt die neu ausgebaute Strecke zum Rangierbahnhof in Augsburg vor der 23-Jährigen. Nachdem der Wagenmeister den Zug abfahrbereit gemeldet hat, Claudia den Zugcomputer mit wichtigen Daten zum Errechnen der Bremskraft und Geschwindigkeit gefüttert und die Frachtpapiere entgegen genommen hat, geht es über den Südring auf die Strecke. Nachdem zuvor noch ein Güterzug eines Privatbetreibers, ein Kesselzug aus dem Chemiedreieck, ein Express-Zug und eine S-Bahn Vorfahrt hatten: viel Verkehr, warten eben. Trotzdem ist der Zug pünktlich: Die Standzeiten sind im Fahrplan eingepreist. Die Lokführer grüßen sich im Gegenverkehr, egal ob sie im Kommandostand eines Fernreisezuges, einer Regionalbahn, einer S-Bahn oder eines Güterzuges sitzen. Per Handzeichen. Claudia Lips kann das perfekt, als Motorradfahrerin. Nach nur einem kurzen Zwischenstopp in Mering - der ICE! - rollt Claudia mit ihrer Lok der Baureihe 152 in den Bahnhof.

Die Kollegin, die den Zug übernimmt, wartet schon am Gleis. Sie heißt Sabine, ihr Nachname: Lips. Sie ist Claudias Mutter, gelernte Verkäuferin. Nach Mann, Sohn - der bisher im Fernverkehr unterwegs war und jetzt zum Lokführer-Ausbilder ausgebildet wird - und Tochter inzwischen die vierte Bahnerin in der Familie. Die 44-Jährige hat, während ihre Kinder in der Ausbildung waren, eine Weiterbildung zur Güterzugführerin gemacht, in Regensburg. In neun Monaten. Eine Sonderaktion, weil die DB dringend Personal brauchte. "Wir sind sicher eine sehr außergewöhnliche Familie", sagt Sabine und lacht herzlich. Vor allem für ihren Mann war die Zeit von September 2008 an sehr außergewöhnlich: Als Zugführer im bayerischen Regiobetrieb kam er jeden Abend ins baden-württembergische Bad Mergentheim, nahe der Grenze zum Freistaat, nach Hause - die Frau war da, die Kinder auch. Doch plötzlich: "Wir waren alle weg, die Kinder in Nürnberg, ich in Regensburg. Das war hart für ihn", sagt die 44-Jährige. Familientreffen sind inzwischen nur noch schwer zu organisieren, und das nicht nur, weil Claudia nun in München wohnt. Die Dienstpläne sorgen dafür, dass eigentlich immer irgendeiner unterwegs ist. Und so bekommt Claudia die ganzen Modelle der Spur N, die bei den Eltern daheim im Wohnzimmerschrank stehen, selten zu Gesicht: Dort sind alle Loks aufgereiht, auf denen die vier Bahner schon gefahren sind.

In Augsburg hat der Zug gut eine Stunde Aufenthalt. Rangierer und Wagenmeister hängen noch einmal gut 340 Meter Waggons an - nach Maschen, wo im größten Rangierbahnhof Europas der Zug wieder geteilt wird, rollen also mehr als 700 Meter mit einem Gewicht von 1400 Tonnen. Auf den Straßen müssten dazu mehr als 60 Lastwagen unterwegs sein. Sabine Lips fährt den Zug später nach Würzburg. Von dort fährt sie heim ins nahe Bad Mergentheim. Claudia Lips übernachtet im Hotel. Am Mittag geht es zurück - im Führerhaus einer Lok, mit Containern, verteilt auf einen guten dreiviertel Kilometer Länge. In der Münchner Wohnung wartet ihr Freund. Wenn er nicht gerade im Führerstand seiner Güterlok unterwegs ist.

© SZ vom 25.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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