Süddeutsche Zeitung

Bertelsmann-Stiftung:Vor der Pflegekatastrophe

  • Bei der Pflege alter Menschen herrscht jetzt schon ein drastischer Personalmangel.
  • Einer Prognose der Bertelsmann-Stiftung zufolge wird es bis zum Jahr 2030 aber noch gravierender: Allein in Bayern werden dann etwa 62 000 Fachkräfte.

Von Dietrich Mittler

Bei der Pflege alter und hinfälliger Menschen steht Bayern vor geradezu dramatischen Herausforderungen: Die sich abzeichnenden Personalengpässe sind sowohl in den Heimen als auch bei den ambulanten Pflegediensten erdrückend. Die Staatsregierung hat nun als Antwort auf eine Interpellation der Freien Wähler Zahlen geliefert, die einen massiven Pflegenotstand prognostizieren, wenn nicht entschieden gegengesteuert wird. Werden zum Beispiel die im 130-seitigen Bericht zitierten Prognosen der Bertelsmann-Stiftung Realität, so ist in Bayern in der ambulanten Pflege 2030 mit einer Versorgunglücke von 14 149 Vollzeitkräften zu rechnen. In der stationären Altenpflege fehlen dann gar 47 945 Fachkräfte.

Jährlich werden in Bayern gut fünf Prozent neue Altenpflegekräfte gebraucht - aufgrund der altersbedingten Fluktuation. Aber auch dadurch, dass angesichts der stressigen Arbeitsbedingungen nicht wenige das Handtuch werfen. In Zahlen ausgedrückt heißt das: Um den Bedarf zu decken, hätten im Zeitraum 2015/2016 gut 4500 Menschen eine Ausbildung in der Pflege beginnen müssen, wie ein 2013 von der Staatsregierung in Auftrag gegebenes Gutachten ergab.

Tatsächlich haben in diesem Zeitraum nur 3370 Schülerinnen und Schüler eine Ausbildung in der Altenpflegebegonnen. Noch desolater erscheint das Bild, wenn man sieht, dass die Gutachter davon ausgingen, dass im Zeitraum 2014/2015 rein rechnerisch 14 100 junge Menschen in die Pflegeausbildung hätten gehen müssen, um das bereits bestehende Defizit auszugleichen. Indes fingen da nur 3291 Pflegeschüler ihre Ausbildung an.

Auf den Stationen der Pflegeeinrichtungen ist der Mangel an Fachpersonal greifbar - was sich nicht zuletzt auch in der Besetzung der Nachtdienste niederschlägt. Aber in einigen Einrichtungen ist bereits der Tagdienst ein Problem. Wie die Kontrolleure der Heimaufsicht 2014 feststellten, hatten 166 stationäre Einrichtungen für ältere Menschen die gesetzlich festgelegte Fachkraftquote nicht mehr erfüllen können. Dies mag angesichts von bayernweit mehr als 1600 Altenpflegeheimen als wenig erscheinen, doch für Peter Bauer, den Gesundheits- und Pflegeexperten der Freien Wähler (FW), ist dies ein Warnzeichen.

Die Zahl der beanstandeten Häuser sei im Vergleich zu 2012 gestiegen. "Bei uns in Bayern gilt die Regel, dass bei mehr als vier pflegebedürftigen Bewohnern mindestens jede zweite Pflegekraft eine Fachkraft sein muss", sagte Bauer am Donnerstag im Landtagsplenum. Und dies, so betonte er, sei "eine sehr sinnvolle Regelung, die dazu dient, die Qualität der Pflege auf einem hohen Niveau sicherzustellen". Melanie Huml, Bayerns Gesundheits- und Pflegeministerin, stimmte mit Bauer in der Plenumsdebatte in diesem Punkt überein: "Pflege ist eines der bedeutendsten, aktuellsten und brisantesten Themen unserer Gesellschaft", sagte die CSU-Politikerin in Bezug auf die Präambel der Interpellation.

Richtig sei auch, dass "deutlich mehr Personal" für Pflegeheime und ambulante Dienste bereitstehen müsse. "Das ist die nächste große Herausforderung, der wir uns stellen", sagte Huml. Die Ministerin betonte aber zugleich, dass die Staatsregierung - nicht zuletzt sie selbst - in der zurückliegenden Zeit nicht tatenlos geblieben sei. Dank der Intervention Bayerns fließe künftig mehr Geld in die Tages-, die Nacht- und die Kurzzeitpflege.

Auch sonst verschaffe der bisherige Einsatz der Staatsregierung betroffenen Menschen in Bayern Vorteile: "Jemand, der in der Pflegestufe I mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz eingruppiert ist, bekommt bei ambulanter Pflege heute 689 Euro als Zuschuss für Sachleistungen", sagte Huml. Künftig könne dieser Personenkreis von 1298 Euro ausgehen.

Die Pflegebedürftigen, so Huml, könnten auf sie bauen - insbesondere wenn es gelte, "regelnd und schützend einzugreifen". Schließlich sei sie es gewesen, die nun eine bessere Besetzung der Nachtdienste auf den Stationen durchsetze. Möglicher Kritik, dass hier noch viel zu wenig passiere, baute die Ministerin gleich vor: Ihr Haus habe das Jahr 2016 dazu genutzt, die Situation zu prüfen und Einrichtungen zu beraten. "Im kommenden Jahr aber wird es für die Heimträger auch Konsequenzen geben, wenn der Nachtdienstschlüssel nicht eingehalten wird", sagte Huml.

Das schlagende Argument dafür, dass die Staatsregierung die Probleme in der Pflege ernst nehme, sei ihr eigenes Haus - im Oktober 2013 neu formiert als Gesundheits- und als Pflegeministerium. Zudem habe die Staatsregierung 2014 mit Hermann Imhof einen Beauftragten in Amt und Würden gesetzt, der sich nicht nur der Sorgen der Patienten, sondern eben auch der Belange der Pflege annehme. Rückendeckung bekam Huml hier von ihren Parteifreunden. "Das Thema Pflege genießt bei uns hohe Wertigkeit", hieß es.

Das sehen insbesondere die Freien Wähler und die Grünen ganz anders: "Im Staatsministerium für Gesundheit und Pflege gibt es gemäß den Angaben in der Antwort der Staatsregierung gerade mal zwei Stellen mit pflegefachlicher Expertise", kritisierte Peter Bauer (FW). Massiver wurde Ulrich Leiner von den Grünen: "Wir brauchen keinen zahnlosen Tiger", sagte er. Offenbar mangele es dem Gesundheits- und Pflegeministerium innerhalb der Staatsregierung an Einfluss. Weder habe Huml den Umzug ihres Hauses verhindern, noch den ursprünglichen Plan einer Pflegekammer durchsetzen können. "Wir brauchen aber ein Ministerium, das seinen großen Aufgaben auch gerecht wird", sagte Leiner. In einem Punkt wusste die Ministerin an diesem Tag indes auch die SPD hinter sich: Die findet, Humls Pendant zu einer Pflegekammer habe "eine Chance verdient".

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Quelle:
SZ vom 11.11.2016/jey
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