Bergwacht Bayern:Lebensretter im Schnee

Bergwacht in Garmisch-Partenkirchen im Einsatz

Rettung im Anflug: Ein Hubschrauber landet in Garmisch-Classic um ein verletzes Mädchen zu bergen.

(Foto: Merlin Gröber)

Hansjörg Krempl koordiniert im Skigebiet Garmisch-Classic am Wochenende Rettungseinsätze. An guten Tagen trinkt er vor allem Kaffee, an schlechten Tagen lässt er Leichen vom Berg fliegen.

Reportage von Merlin Gröber

Der Sturz war heftig. Mehrmals hat es das Mädchen mit der grauen Skihose überschlagen. Nun liegt die 13-Jährige regungslos im Schnee, Ski und Stöcke sind auf der Piste verteilt. Ihr linkes Bein ist verdreht. Die Mutter kniet neben ihr, fest umklammert sie die Hand der Tochter. Der Vater winkt aufgeregt zwei Männer der Bergwacht zu sich. Die Einsatzkräfte in den blau-roten Jacken rammen ihre Ski in den Schnee, wickeln den Oberkörper des Mädchens in eine silberne Thermodecke. Dann tasten sie vorsichtig das Bein ab. Sie befürchten, der Oberschenkel könnte gebrochen sein. Ist auch die Beinschlagader verletzt, muss sie sofort in ein Krankenhaus.

Hansjörg Krempl erfährt von dem Unfall durch ein Knacken auf seinem Schreibtisch. Der 56-Jährige ist Einsatzleiter bei der Bergwacht Bayern, im Winter koordiniert er an den Wochenenden die Rettungseinsätze im Skigebiet Garmisch-Classic. Auf seinem Schreibtisch in einer Berghütte neben der Piste stehen zwei Funkgeräte und ein Telefon. Knackt oder klingelt es, muss Krempl Rettungsmannschaften losschicken, Helikopter anfordern und Krankenwagen bestellen. An guten Tagen trinkt der Einsatzleiter an seinem Schreibtisch vor allem Kaffee; an schlechten Tagen lässt er Leichen vom Berg fliegen.

Vier Stunden zuvor. Wie jeden Samstagmorgen, wenn er im Einsatz ist, steht Krempl um 7.30 Uhr an der Talstation der Kreuzeckbahn in Garmisch-Partenkirchen. "Schönes Wetter und Wochenende, heute wird's voll", sagt er und blickt zur Alpspitze, hinter der die Sonne gerade aufgeht. Der Skibetrieb beginnt erst in einer Stunde, aber Krempl nimmt immer die erste Betriebsfahrt auf den Berg. "Dann ist es da oben noch schön ruhig", sagt er, klemmt seine Skistöcke unter den Arm und steigt in die Gondel. Die Kreuzeckhütte der Bergwacht liegt rund 50 Meter unterhalb der Bergstation. Später wird er von hier aus das Mädchen in der grauen Skihose im Schnee liegen sehen.

Als Krempl an der Hütte ankommt, nimmt er einen großen Korb, verschwindet hinter dem Haus und holt Holz. "Jetzt mache ich es uns erstmal warm", sagt er. Dann lässt er sich in seinen Stuhl fallen, schaut durchs Fenster und betrachtet das bayerische Alpenpanorama, das in der Morgensonne glänzt. Unter der Woche arbeitet er im Klinikum in Garmisch. Er ist dort im Einkauf tätig, besorgt alles für den Klinikbetrieb außer Medizin. Am liebsten ist er aber hier oben in den Bergen. Kameradschaft, Freiheit, "das hast du nur hier", sagt er mit dem kernigen Dialekt eines Oberbayern. Krempl ist großgewachsen, seine Hände sind rau, in den Haaren steckt eine verspiegelte Sonnenbrille, vereinzelt schimmern graue Strähnen durch. Seit seiner Kindheit lebt er in Garmisch, woanders hin wollte er nie: "Ohne Berge könnte ich nicht leben."

Hanjörg Krempl an seinem Schreibtisch

Warten auf den Notruf: Hansjörg Krempl koordiniert im Skigebiet Garmisch-Classic die Einsätze der Bergwacht.

(Foto: Merlin Gröber)

Auf dem Schreibtisch knackt das Funkgerät zum ersten Mal an diesem Tag. "Osterfeldhütte ist besetzt", sagt eine blecherne Stimme. Es melden sich die Einsatzkräfte an, die im Skigebiet neben der Kreuzeckhütte noch auf zwei weiteren Hütten stationiert sind. Auch bei Krempl kommen die ersten Freiwilligen an, um halb neun warten sieben Helfer der Bergwacht auf ihre Einsätze. Koordiniert werden sie von Krempls Schreibtisch aus. Mit dem Telefon hält er Kontakt zur Leitstelle in Weilheim, die für ihn Krankenwagen und Helikopter organisiert; über die Funkgeräte gibt er seinen Teams Anweisungen.

Hansjörg Krempl ist seit seinem 16 Lebensjahr bei der Bergwacht. Bevor er Einsätze leiten durfte, musste er eine mehrjährige Ausbildung durchlaufen. Bergsteigen, Naturschutz, Notfallmedizin sowie Luft- und Bergrettung lernte er, dann folgten Prüfungen und Eignungstests. Das war vor vierzig Jahren. Inzwischen sitzt er im Winter fast jedes Wochenende in der Kreuzeckhütte und koordiniert Einsätze. An langen Tagen ist er elf Stunden hier. Dann sieht er die Sonne über der Alpspitze aufgehen und fährt abends über mondbeschienene Pisten ins Tal.

Um kurz vor zehn knackt das Funkgerät erneut. Ein erster Einsatz, 14 weitere sollen an diesem Tag noch folgen. "Wir haben einen Verletzten auf der Olympia-Abfahrt", sagt eine Stimme, diesmal stammt sie von einer Pistenpatrouille. Ein junger Mann ist gestürzt, er hat sich das Knie verdreht. "Wir brauchen Verstärkung unten an der Olympia", sagt Krempl und dreht sich zu seiner Mannschaft um. Zwei Freiwillige springen auf, ziehen sich die rot-blauen Jacken über und verschwinden auf ihren Skiern mit einem Wannenschlitten in Richtung Tal.

Bergwachteinsatz in Garmisch-Classic

Die ehrenamtlichen Helfer der Bergwacht im Einsatz.

(Foto: Merlin Gröber)

Etwa 12 000 Mal pro Jahr rückt die Bergwacht in Bayern aus, im Winter sind die 4200 ehrenamtlichen Helfer mit 23 000 Stunden etwas seltener unterwegs als im Sommer mit insgesamt 30 000 Stunden. Als Krempl bei der Bergwacht anfing, wurde noch improvisiert, erinnert er sich: "Teilweise haben wir unsere eigene Ausrüstung hergestellt." Metallhaken wurden selbst geschmiedet und Seile verwendet, bis sie porös waren. Das hat sich geändert: "Mit den Gerätschaften von früher könnten wir die Einsätze heute gar nicht mehr machen." Die Berge, stellt er fest, würden immer voller und die Leute risikobereiter, Hilfe ist mit dem Smartphone in der Tasche sofort gerufen. Manchmal werden Krempl und seine Einsatzkräfte für Lappalien gerufen, wenn jemand Blasen an den Füßen hat oder müde ist. Das ärgert Krempl. Wegen Kleinigkeiten möchte er nicht sein Leben riskieren.

Eine falsche Entscheidung, und ein Menschenleben ist in Gefahr

"Wir brauchen einen Krankenwagen an der Talstation." Wieder knackt das Funkgerät auf Krempls Schreibtisch, wieder eine Knieverletzung, diesmal bei einem Jungen. Zwei Minuten später meldet eine Patrouille eine Frau mit Handverletzung, kurz darauf klingelt das Telefon, Notruf, ein Mann mit ausgekugelter Schulter liegt auf der Piste. Es ist inzwischen früher Nachmittag, die Einsätze häufen sich. Krempl schickt Zweierteams los. Ist jemand schwer verletzt und hat starke Schmerzen, wie der Mann mit der ausgekugelten Schulter, ruft Krempl einen Helikopter. Die Frau mit der Handverletzung transportiert die Bergwacht dagegen in einem Wannenschlitten auf der Piste ab. An der Talstation wartet ein Krankenwagen.

Bergwacht in Garmisch-Partenkirchen im Einsatz

Mit detaillierten Pistenplänen orientieren sich die Einsatzkräfte im Skigebiet.

(Foto: Merlin Gröber)

Für Hansjörg Krempl ist jeder Einsatz ein Risiko. Schätzt er eine Situation falsch ein, kann jemand sterben. Passiert ist ihm das noch nie, vergangenes Jahr war es aber knapp. In der Hütte ging ein Notruf ein, ein Mann hatte sich bei einem Sturz die Hüfte verletzt. Krempl orderte über die Leitstelle einen Krankenwagen an die Talstation, einen Helikopter rief er nicht. "Ich dachte, die Verletzung sei nicht lebensbedrohlich." Nachmittags rief ein Arzt aus dem Krankenhaus an: Der Mann hatte eine Beckenfraktur und viel Blut verloren, die Verletzung war lebensbedrohlich. Wäre er zehn Minuten später im Krankenhaus gewesen, hätte der Mann nicht überlebt.

In seinen vierzig Jahren bei der Bergwacht musste Krempl bisher etwa 30 Tote bergen. Seine erste Leiche holte er als Jugendlicher vom Berg. "Früher war man nicht so zimperlich, da mussten auch junge Anwärter mit zur Totenbergung." Wanderer hatten im Frühjahr einen Rucksack unterhalb des Jubiläumsgrats gefunden, jenem steilen Grat, der sich von der Zugspitze bis zur Alpspitze zieht. Nach mehrstündiger Suche fanden Krempl und seine Kollegen den Leichnam eines 26-jährigen Bergsteigers. Der junge Mann war im Winter vom Jubiläumsgrat gestürzt und liegen geblieben, bis der Schnee geschmolzen war.

Keiner seiner Einsätze beschäftigt Krempl bis heute jedoch so sehr wie eine Totenbergung im Herbst vor zwei Jahren. Spät abends wurde er mit anderen Helfern zu einem Einsatz gerufen. Die Bergwacht brauchte fünf Mann, um die Leiche eines 25-Jährigen aus einer Grube zu holen. Krempl kannte den jungen Mann: Sein Sohn war mit ihm zur Schule gegangen, er selbst traf sich öfter mit ihm im Schützenverein. "An dem Abend saßen wir bis in die frühen Morgenstunden zusammen und haben geredet", sagt Krempl. Mit anderen über das Geschehen zu sprechen helfe, die Bilder im Kopf zu verarbeiten.

Ein Knacken auf dem Schreibtisch reißt den Einsatzleiter aus seinen Gedanken. "Kreuzeck, bitte kommen." Krempl lehnt sich nach vorne, drückt auf den schwarzen Knopf am Funkgerät und antwortet: "Kreuzeck hört." Dann legt er seinen Kopf leicht zur Seite, um die Stimme aus dem Funkgerät besser zu verstehen: "Wir brauchen einen Helikopter für den Landeplatz Kreuzalm. Verletztes Mädchen im Hexenkessel. Verdacht auf Oberschenkelbruch."

In diesem Moment weiß Krempl, dass es um alles geht. Hat sich das Mädchen beim Sturz die Beinschlagader verletzt, füllt sich das Bein mit Blut. Kommt dann der Helikopter zu spät, stirbt sie.

Bergwacht in Garmisch-Partenkirchen im Einsatz

Hat ein Patient starke Schmerzen oder lebensbedrohliche Verletzungen ruft Hansjörg Krempl einen Helikopter.

(Foto: Merlin Gröber)

Krempl reagiert sofort. Er nimmt den Telefonhörer in die Hand, ruft die Leitstelle an, ordert einen Helikopter. Dann lehnt er sich nach vorne und schaut durchs Fenster. Das Mädchen in der grauen Skihose liegt etwa 300 Meter unterhalb der Hütte im Schnee. Helfer fahren zu ihr, legen die 13-Jährige auf ein Schneemobil und fahren sie zu einem flachen Abschnitt auf der Piste. Wenig später kündigt ein lautes Knattern den nahenden Helikopter an. Schnee wirbelt durch die Luft, als er auf der Piste landet. Die Türen springen auf, zwei Notärzte und der Pilot eilen zur Trage. Gemeinsam mit der Bergwacht heben sie das Mädchen in den Helikopter. Die Verletzte ist inzwischen ansprechbar, sie weint leise.

Als die Maschine am Rande des Hexenkessels abhebt, wirbelt wieder Schnee durch die Luft. Noch dröhnt das Echo der Rotoren durchs Tal, da meldet sich wieder das Funkgerät auf Krempls Schreibtisch. Unfall unterhalb des Hausbergs. Ein Mann mit Schulterverletzung liegt neben der Talabfahrt, die Rettungskräfte brauchen einen Helikopter. Krempl nickt, nimmt den Telefonhörer in die Hand und wählt die Nummer der Leitstelle.

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