Süddeutsche Zeitung

Schneechaos in Berchtesgaden:Dach um Dach wird freigeräumt

Tausende Helfer schaufeln noch immer den Schnee von den Häusern. Im Berchtesgadener Land geht der Einsatz den Leuten längst an die Substanz.

Von Matthias Köpf, Berchtesgaden

Rüdiger Maetzig zwängt sich durch die Luke ins Freie. Das Dach ist nicht allzu steil. Maetzig stapft durch den kniehohen Schnee ein paar Meter Richtung First und zieht den Meterstab heraus. Das Alpenhotel Kronprinz liegt ein bisschen oberhalb des Berchtesgadener Markts. Mit jedem Höhenmeter über dem Talkessel steigt die Schneehöhe auf den Dächern, auf dem fünfstöckigen Hotel werden es gerade um die 60 Zentimeter sein. Holger Frank hat inzwischen die Waage geholt, Maetzig zieht mit einem umfunktionierten Abwasserrohr eine Art Bohrkern aus der Schneedecke. Am Ende errechnet er 140 Kilogramm Schneelast pro Quadratmeter Dach, das geht noch, das Doppelte sollte in Berchtesgaden kein Problem sein.

Bei ihm daheim in Hof käme so eine Schneelast langsam in den kritischen Bereich, dort sind die Dächer auf 175 Kilogramm Schneelast ausgelegt, sagt Bauingenieur Maetzig. Deswegen ist sein Abwasserrohr zum Messen auch nur einen guten Meter lang, aber in diesem Fall reicht das. Er und Frank sind am Sonntag mit dem Technischen Hilfswerk (THW) aus Oberfranken zum Katastropheneinsatz nach Berchtesgaden gekommen. Die Anfahrt über Weißbach hätten sie sich selber freischaufeln müssen, sagt Holger Frank. Als THW-Baufachberater prüft Maetzig nun ein Dach nach dem anderen auf seine Tragfähigkeit. 400 stehen am Dienstagnachmittag noch auf der Liste, aber inzwischen werden es weniger und nicht immer noch mehr, so wie an den vergangenen Tagen.

Die Helfer in Berchtesgaden und Umgebung konnten gar nicht so viele Dächer freiräumen, wie ihnen gemeldet wurden. Am Dienstag hatte Kreisbrandinspektor Toni Brandner als Einsatzleiter für die Region 1700 Helfer von Feuerwehr, THW, Bundeswehr, Bundespolizei und Rettungsorganisationen wie BRK, Malteser Bergwacht und Wasserwacht in Einsatz, 400 weitere waren im Norden des Berchtesgadener Lands rund um die Ortschaft Neukirchen an der A 8 unterwegs. Dort lag der Schnee deutlich mehr als zwei Meter hoch, wie auch in einzelnen Ortsteilen rund um Berchtesgaden wie dem zeitweise von der Außenwelt praktisch abgeschlossenen Buchenhöhe am Obersalzberg. Am Dienstag ist zunächst nur noch Schneizlreuth abgeschnitten, weil die Straßen rundum wegen Lawinengefahr gesperrt bleiben mussten.

Landrat Georg Grabner hatte Sprengungen angeregt, doch seine Lawinenkommission hat ihm abgeraten: Zu viel und zu schwerer Schnee liegt da in den Hängen, eine losgesprengte Lawine hätte womöglich die technische Schutzverbauung für die Bundesstraße und den wertvollen Schutzwald mitgerissen, sagt Grabner, der ebenfalls im Berchtesgadener Feuerwehrhaus die Stellung hält. Er hat den Katastrophenfall am Donnerstag ausgerufen - in den Landkreisen Miesbach und Traunstein gilt er am Dienstagabend ebenfalls noch - seither sind Helfer aus ganz Bayern herbeigeeilt. Jeder bunte Zettel auf der Stellwand hinter Einsatzleiter Brandner steht für zehn Helfer, blau für das THW, grün für die Bundeswehr, rot für die Feuerwehr, dabei stehen Ortsnamen wie Mühldorf, Altötting, Fürth, Freising und Sonthofen. Schon sie alle zu koordinieren, zu verpflegen und ihnen Feldbetten in den Turnhallen zu verschaffen, ist ein enormer Aufwand.

Die örtliche Berchtesgadener Feuerwehr ist schon seit Beginn der vergangenen Woche im Dauereinsatz, erst haben sie umgestürzte Bäume von den Straßen geschnitten, seit ein paar Tagen geht es vor allem um die Dächer. Geschaufelt wird in Fünfergruppen, im Durchschnitt schafft eine Gruppe am Tag ein Einfamilienhaus. Der Einsatz geht den Leuten längst an die Substanz. Nachts lege er sich hin und ruhe höchstens ein bisschen, sagt ein Feuerwehrler, mit dem Schlafen tue er sich schwer trotz der körperlichen Erschöpfung. Und immer sei klar, dass es am nächsten Morgen wieder weitergeht. Ihm gehe es genauso, sagt ein anderer.

Landrat Grabner kann die Helfer gar nicht genug loben. Den Katastrophenfall will er so lange aufrecht erhalten, bis praktisch alle Dächer überprüft sind. Es ist der fünfte Katastrophenfall, den er in seinen bald 17 Amtsjahren ausgerufen hat. Eine ähnliche Schneelage gab es 2006, als in Bad Reichenhall 15 Menschen beim Einsturz der Eishalle umkamen. Diesmal gibt es im Berchtesgadener Land bisher keine Toten oder Schwerverletzten. Eigentlich sei auch die Schneemenge gar nicht so ungewöhnlich, sagt Einsatzleiter Toni Brandner. Der viele Schnee fiel nur in sehr kurzer Zeit. Manche Menschen hätten Angst, berichtet Landrat Grabner. Die vier Mitarbeiterinnen am Bürgertelefon im Landratsamt müssten auch mal weinende ältere Menschen beruhigen, die ihre Angst vor dem Schnee auf dem Dach mit niemandem teilen können.

Im Alpenhotel Kronprinz brauchen Inge Hansen, ihr Sohn Hendrik und die Gäste in den 65 Zimmern keine Angst zu haben. Der Schnee am Dach ist nicht besonders wässrig und auch nicht vereist, sagt THW-Mann Rüdiger Maetzig, nachdem er wieder durch die Luke geklettert ist. Inge Hansen hatte schon Ende vergangener Woche angerufen, aber schneller ging es eben nicht. Junior-Chef Hendrik Hansen ist ohnehin einer von denen, die all den Schnee gelassen sehen, weil sie daran gewöhnt sind. Einige Stornierungen habe es zwar gegeben, sagt Hansen, doch er gewinnt dem Ganzen auf lange Sicht sogar etwas Gutes ab. So sei Berchtesgaden wenigstens wieder mal in aller Munde. Und das Wetter wird besser: Am Dienstag spitzt manchmal schon der Watzmann aus den weißen Wolken. Nur die Helfer auf den Dächern haben dafür noch keinen Blick.

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SZ vom 16.01.2019/frw
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