Süddeutsche Zeitung

Wiederansiedelung in Berchtesgaden:Nationalpark wildert Bartgeier aus

Die zwei Jungvögel ziehen für das Projekt von Spanien nach Bayern. Mit etwas Glück können Naturfreunde sie schon bald im Flug beobachten.

Von Christian Sebald

Das Klausbachtal ist eines der drei Haupttäler des Nationalparks Berchtesgaden. Es wird in seinem Westen begrenzt von einer Reihe felsiger Zweitausender. Einer davon ist das Knittelhorn (2015 Meter). Etwa 700 Meter unter dem Gipfel - direkt am Übergang eines extrem steilen Wiesenhangs in die Felsregion - liegt eine sechs Meter tiefe und etwa 20 Meter breite Nische im Fels. Das ist der Ort, von dem aus die Wiederansiedlung des Bartgeiers in Bayern stattfinden wird. In dieser Felsnische werden am nächsten Donnerstag die beiden jungen Bartgeier aus Spanien ausgewildert, die den Anfang des auf zehn Jahre angelegten Wiederansiedlungsprogramms machen.

Beim Landesbund für Vogelschutz (LBV), dem Träger des Projekts, sind sie sehr im Stress. Dieser Tage laufen die finalen Vorbereitungen für die Auswilderung. "Und da spitzt sich natürlich alles zu", sagt Toni Wegscheider, Jahrgang 1978, Biologe und Leiter des Wiederansiedlungsprojekts. Der Andrang wird groß sein am Donnerstag - allem voran von Bartgeier-Fans aus nah und fern, aber auch von Politikern und von den Medien. Sie alle wollen bedient werden mit Gesprächspartnern und möglichst spektakulären Bildern. Unten am Klausbachhaus, einem denkmalgeschützten alten Bauernhof, in dem eine Infostelle des Nationalparks untergebracht ist, ebenso wie oben am Wanderweg zur Halsalm, wo der LBV eine Bartgeier-Infostelle einrichten wird.

Bartgeier (Gypaetus barbatus) zählen zu den spektakulärsten Greifvögeln weltweit. Wenn so ein Bartgeier mit seinen bis zu drei Metern Spannweite hoch am Himmel durch die Luft segelt, ist das ein majestätischer Anblick. Aber auch aus der Nähe sind die Tiere sehr imposant. Das liegt vor allem an dem hakenförmigen Schnabel und den schwarzen Federn, die von ihm borstenartig nach unten abstehen. Von ihnen hat der Bartgeier seinen Namen. Die Greifvögel sind aber harmlos und ungefährlich. Sie fressen nur Aas und Knochen.

Gleichwohl sind die Bartgeier in den Alpen ausgerottet worden. Das hatte mit dem über Jahrhunderte gepflegten Irrglauben zu tun, dass sie Schafen und sogar Kleinkindern nachstellen. Die Tiere wurden gnadenlos gejagt. 1906 wurde der letzte in Österreich abgeschossen. In den Achtzigerjahren startete die Wiederansiedlung in den Alpen - vom Nationalpark Hohe Tauern aus. Die Projekte waren sehr erfolgreich. Aktuell leben etwa 300 Bartgeier in den Alpen. Das Projekt in Bayern soll die Lücke zwischen den Populationen in den Ostalpen und auf dem Balkan schließen.

Oben am Fuß des Knittelhorns ist von der Hektik im Tal wenig zu spüren. Wegscheider kommt dieser Tage oft herauf an einen stillen Platz, von dem aus er und seine Mitarbeiter nicht nur die Auswilderung selbst überwachen werden. Sondern von dem aus sie den ganzen Sommer beobachten wollen, wie sich die zwei jungen Bartgeier in freier Wildbahn machen - von ihren ersten Flugversuchen in einigen Wochen bis zu dem Zeitpunkt im Spätsommer, an dem sie das Gebiet direkt um das Knittelhorn herum für weite Ausflüge verlassen werden. Wegscheider sitzt auf der Holzplattform, die der Nationalpark für ihn und seine Mitarbeiter am Berg aufgestellt haben, und schaut durch sein Fernglas drei Nationalpark-Rangern zu, die oben in der Auswilderungsnische letzte Hand legen an den Zaun, die Aufhängung für die Überwachungskameras und die andere Ausstattung.

Der LBV stützt sich bei dem Projekt auf ein weitläufiges Netzwerk. Die beiden jungen Bartgeier für Berchtesgaden kommen an diesem Samstag in Nürnberg an. Der Tiergarten dort hält selbst seit Langem Bartgeier, er ist Teil eines europaweiten Zuchtprogramms für die Greifvögel und deshalb erste Anlaufstation für die Jungtiere in Bayern. Die Bartgeier haben eine lange Reise hinter sich. Sie stammen aus Spanien, genau gesagt aus dem Bartgeier-Zuchtzentrum Guadalentín in Andalusien. Dort sind sie vor ziemlich genau hundert Tagen geschlüpft.

Inzwischen sind sie fast so groß wie ausgewachsene Tiere, können aber noch nicht fliegen. "Im Nürnberger Tiergarten sollen sich unsere Bartgeier akklimatisieren", berichtet Wegscheider. "Denn hier bei uns in Bayern ist es ja deutlich kühler als in Südspanien." Außerdem werden sie beringt und man bleicht ihnen einzelne Federn der Schwingen und im Schwanz. "So kann man sie bis zur ersten Mauser nach drei Jahren auch im Flug identifizieren", sagt Wegscheider. Und die Experten dort passen ihnen auch noch hochmoderne GPS-Sender an, mit deren Hilfe Wegscheider und Co. die Tiere lückenlos überwachen können.

Vor allem aber sollen sich die jungen Bartgeier von den Strapazen der langen Reise erholen und aneinander gewöhnen können. Von Guadalentín nach Nürnberg sind es fast 1700 Kilometer Luftlinie, mit dem Auto sind es sogar gut 2000 Kilometer. "Normalerweise werden junge Bartgeier über so lange Strecken mit dem Flugzeug transportiert", berichtet Wegscheider. "Aber wegen der Corona-Pandemie ist das dieses Jahr nicht möglich." Also musste ein Spezialunternehmen ran, für das solche komplizierten Tiertransporte auf dem Landweg Routine sind und das über ein klimatisiertes Spezialfahrzeug verfügt. Seit Mittwochabend sind die beiden Bartgeier nun schon unterwegs. Nach dem Zwischenstopp in Nürnberg geht es am Donnerstagfrüh - wieder per Auto - nach Berchtesgaden, wo die Tiere gegen zehn Uhr erwartet werden.

Ein Höhepunkt der Auswilderung wird die Taufe der beiden Bartgeier sein. Aktuell tragen sie noch ihre wissenschaftlichen Kürzel, sie lauten lapidar BG 1112 und BG1113. Taufpaten für den einen Bartgeier sind die Schüler des Gymnasiums Berchtesgaden, das Partnerschule des Nationalparks ist. Den Namen für den anderen haben die Leser der Süddeutschen Zeitung bestimmt. In den vergangenen Tagen haben Hunderte der Redaktion ihre Vorschläge per E-Mail oder per Post zugeschickt. Unter allen Einsendungen zeichnen sich klar zwei Favoriten ab - je nach dem ob der SZ-Bartgeier ein Männchen oder ein Weibchen ist. Welche Vorschläge das sind, wird noch nicht verraten. Denn die Taufe der Bartgeier ist der Höhepunkt Auswilderung. Und die findet ja erst am Donnerstag statt.

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SZ vom 05.06.2021/imei
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