Bayreuth:Zähne ziehen wie im Mittelalter

Medicus auf dem Mittelaltermarkt in Oberfranken.

Oliver Günther (links) zieht Zähne, sägt Gliedmaßen ab und hantiert mit rostigen Nägeln. Allerdings nicht in seiner Praxis, sondern bei Mittelaltermärkten in ganz Bayern.

(Foto: Stefanie Huschle)

Oliver Günther hat viele ungewöhnliche Hobbys. Nach Feierabend reist der Zahnarzt als Medicus über die Mittelaltermärkte in Bayern.

Von Stefanie Huschle

Der Patient brüllt vor Schmerz. Er kann sich nicht wehren, er wird von drei Personen an Armen und Kopf festgehalten. Oliver Günther beugt sich über ihn, einen rostigen Nagel in der Hand, mit dem er einen Abszess im Mundraum des Patienten öffnet. Während der Eiter abfließt, erklärt Günther voller Überzeugung: "Es muss ein rostiger Nagel benutzt werden, um einen Abszess zu öffnen. Danach darf der Nagel weder vom Licht der Sonne, noch vom Licht des Mondes berührt werden!"

Es ist Sommer 2018. Furchteinflößende Szenen spielen sich ab im Schatten der Burg Rabenstein in Oberfranken. Zahnlücken werden mit Zement gefüllt, Zähne ohne Betäubung gezogen, sogar Beine amputiert. Blut und Eiter spritzen. Es wird gebrüllt, geschrien und gekreischt. Zum Glück ist all der Schmerz nur gespielt, eine Show auf einem Mittelaltermarkt.

Ungewöhnliche Hobbys als Leidenschaft

Oliver Günther trägt angenähte Zähne an seiner Weste, echte Zähne - 35 von Menschen und 16 von Rindern. Er ist der Arzt in der etwa 20-köpfigen Mittelalter-Gruppe Malleus Medicinae ("Medizin-Hammer"). Der Verein führt auf den Mittelaltermärkten Bayerns Shows auf, mit denen er dem Publikum die medizinischen Methoden des 15. Jahrhunderts näherbringt. "Wir machen eine Mischung aus Info und Unterhaltung", erklärt Günther, 37. Er ist Gründungsmitglied des Vereins und hat die Medicus-Show mit aufgebaut. Weil er Spaß hat am Improvisationstheater, aber auch aus medizinischem Interesse. Die Ärzte damals hätten nicht nur Zähne gezogen und Gliedmaßen abgeschnitten, sondern auch medizinisch experimentiert, sagt er. Mit Zahnfüllungen zum Beispiel, wenn auch aus Zement.

Günther ist selbst Zahnarzt mit eigener Praxis in Bindlach (Landkreis Bayreuth). Die Rinderzähne auf seiner Weste waren Übungsobjekte im Studium, die menschlichen Zähne hat er selbst gezogen. "Es ist immer ein sehr trauriger Moment, wenn ich mit einem Patienten einen Zahn auf diese Welt bringen muss", sagt er und grinst. "Aber was ist schon ein Zahn im Vergleich zur Unendlichkeit es Universums."

Günther kämpft mit dieser Unendlichkeit, deswegen klingt der Satz bei ihm nicht so pathetisch wie wohl bei den meisten anderen. "Ich interessiere mich für so unglaublich viel, dass ich befürchte, meine Lebenszeit reicht nicht aus", sagt er. Ständig erwähnt er ein neues Hobby. Didgeridoo, Samurai-Rüstungen, die Jagd - Günthers Interessen folgen keinem Schema.

Leben im Mittelalter-Kosmos

Bayreuth: Oliver Günther hat Spaß am Improvisationstheater, aber auch Interesse an den medizinischen Themen.

Oliver Günther hat Spaß am Improvisationstheater, aber auch Interesse an den medizinischen Themen.

(Foto: Stefanie Huschle)

Seine größte Leidenschaft ist das Mittelalter; mit 17 Jahren fing das richtig an. Damals wird Günther von Freunden zu einem Mittelalterschulfest eingeladen. Er bittet seine Mutter, ihm eine Mönchskutte zu nähen. Auf dem Fest ist er jedoch der einzige Verkleidete. Dafür lernt er den Vorsitzenden eines Mittelalter-Vereins kennen, mit dem er von da an stundenlange Telefongespräche führt - zum Beispiel über die Frage, wie ein Kettenhemd hergestellt wird. Er wird Mitglied und erlernt mittelalterliche Schwertkampftechniken.

Weil er sich im Laufe der Zeit mehr für die Medizin und weniger für die Kampfkunst interessiert, gründet er 2014 schließlich mit Freunden einen neuen Verein: Malleus Medicinae. Die mittelalterlichen Gewänder näht er inzwischen selbst - für sich selbst und für seine Frau Vanessa. Sie teilt seine Mittelalter-Leidenschaft. Das Paar hat sich beim Schwertkampf kennengelernt. Vanessa ist elf Jahre jünger als ihr Mann. "Trotzdem ist er viel kindlicher als ich", sagt sie. Sie ist ebenfalls Zahnärztin und arbeitet in der Praxis ihres Mannes. "Es vergeht kein Tag in der Praxis, an dem wir nicht lachen", sagt sie.

Mit seinen Patienten unterhält sich Günther gerne lange: "Vor Kurzem hat mir einer von Pulverbeschichtungsverfahren erzählt. Darüber wusste ich vorher noch gar nichts", sagt er. Günther interessiert sich für alles und jeden. "Zu mir in die Praxis kommen viele Nerds und Mittelalterfreunde", sagt er. Für die hat Günther kleine Geschenke, Schlüsselanhänger zum Beispiel. Günther macht auch Hausbesuche bei Patienten, die nicht mobil sind, Krebs haben, bald sterben. Es geht ihm darum, ihnen den letzten Weg zu erleichtern. Bei dem Thema wird Günther auch mal ernst. Eine Vitrine im Wartezimmer nutzt Günther für wechselnde Ausstellungen. Momentan finden die Patienten dort Infos zu 3-D-Druckern - noch ein Hobby. So einen hat er sich selbst gebaut. "Als mein 3-D-Drucker das erste Mal getan hat, was er sollte, das war ein Gefühl wie der erste Atemzug von Darth Vader", sagt er.

Außerdem ist Günther Ausbilder an der Landesjagdschule. "Solche Traditionen sind gut und wichtig", sagt er. Als pubertierender Jugendlicher hat er sieben Abzeichen im Standard-Tanz gemacht. Er spielt Didgeridoo, vier dieser großen australischen Instrumente hat er zu Hause.

"Wenn Olli etwas macht, dann macht er es richtig"

Momentan baut Günther eine Samurai-Rüstung nach historischem Vorbild - seit eineinhalb Jahren bastelt er schon daran. Dafür hat er Bücher auf Englisch gelesen, weil es nicht genug deutsche Literatur zu dem Thema gibt. "Weil ich kein Bambus hatte, habe ich Sperrholzplatten mit Wasserdampf verbogen." Während er davon erzählt, entwickelt sich mit einem Freund eine fachkundige Diskussion darüber, wer eher einen Zweikampf gewonnen hätte: ein Samurai oder ein europäischer Ritter? Günther meint, dass der Samurai nicht lange überleben würde.

"Wenn Olli etwas macht, dann macht er es richtig", sagt ein Freund. "Und er will sein Wissen dann auch weitergeben", sagt seine Frau. Das ist die liebevolle Umschreibung dafür, dass Günther sehr viel reden kann. Wäre man dem Mann mit dem unkonventionellen Bart und der waldgrünen Schlauchmütze auf dem Kopf nicht wohlgesonnen, man könnte ihn als Freak bezeichnen. Seine Frau beschreibt ihn lieber als lustig, bodenständig und herzensgut. Kommt ein Kind und zeigt ihm sein neues Spielzeug-Schwert, schenkt er ihm seine volle Aufmerksamkeit: "Schau mal die Nieten an! Zeig mal, wie das genäht ist. Ist das schön!"

Nach seiner Show wird Günther von einem Zuschauer nach seiner ärztlichen Meinung zu einer Wurzelbehandlung gefragt. Er antwortet ausführlich, gibt dem Zuschauer seine Visitenkarte und nennt ihm ein geheimes Wort. Eine Art Code. "Wenn du das am Telefon sagst, plant meine Sprechstundenhilfe für dich mehr Zeit ein", sagt er.

Als der künftige Patient die Visitenkarte in den Geldbeutel steckt, erkennt Günther darauf einen Sticker mit dem Logo eines Computerspiels. Das kennt er, klar, es entwickelt sich ein längeres Gespräch. Im Hintergrund hüpft ein Mädchen mit langen braunen Haaren in einem dunkelroten Leinenkleid über die Wiese. Ein mit Blut befleckter Mann hebt ein halbes Bein vom Boden auf. Kunstblut natürlich und das Bein ist aus Plastik. Es ist eine andere Welt an diesem Tag im Schatten der Burg Rabenstein. Ein Mittelalter-Universum. Oliver Günther ist mittendrin.

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david

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