Süddeutsche Zeitung

Bayreuther Festspiele:Heuer nur ein Hügelchen

Kein roter Teppich, nur die Hälfte der Zuschauer und der Chor singt draußen - aber die Wagner-Festspiele finden wieder statt. Wie Bayreuth versucht, dieses besondere Gefühl trotz aller Corona-Beschränkungen zu bewahren.

Von Susanne Hermanski und Olaf Przybilla, Bayreuth

Es gibt noch Karten. Dass man diesen Satz jemals würde aussprechen können, drei Tage vor Beginn der Festspiele auf dem Grünen Hügel, schien vor zwei Jahren ebenso wahrscheinlich wie ein Hubert Aiwanger, der blond gelockt als Siegfried in Walhall einzieht. Sieben Jahre Wartezeit auf eine Karte waren üblich für Normalsterbliche. Und auch als der Vorverkauf auf die Welt des Online-Handels mit strenger Personalisierung der einzelnen Tickets umgestellt wurde, besserte sich die Lage kaum. Wer nicht ein Jahr im Voraus zu bestimmter Zeit mit Engelsgeduld des richtigen Klickmoments bei turboschnellem Wlan harrte, ging leer aus. Jedes verkaufte Ticket war für die Stadt Bayreuth ein Garant für Prosperität. Mit den Wagner-Fans aus aller Welt zogen der Hunger, das Bedürfnis nach einer hübschen Schlafstatt und ein bisschen Zeit für die anderen Attraktionen Oberfrankens ein.

Neben dem Kartenwunder ist manches andere anders im Jahr eins nach dem "großen Schock", wie Kulturreferent Benedikt Stegmayer die Absage der Festspiele 2020 nennt. Als Deutschland damals im März in den ersten Lockdown ging, war augenblicklich klar, es würde im Sommer keine Wagner-Festspiele geben. Zum ersten Mal seit 1951. "Wir hätten im April anfangen müssen mit dem Proben. Mit Menschen aus aller Welt. Das war undenkbar", sagt er.

Für seinen Chef Thomas Ebersberger hätten es die ersten Festspiele als Oberbürgermeister werden sollen. Als Bub aus Bayreuth, geboren 1957, ist er mit den Festspielen aufgewachsen wie mit einem Naturgesetz. Seine Eltern hatten, wie so viele Bayreuther ihr Haus, das nah am "Hüchel" liegt, wie der Franke sagt, gleich mit extra Ferienwohnung gebaut. In der wohnten prominente Festspielgäste - und Musiker. Die großartige Mezzosopranistin Christa Ludwig etwa, die in diesem Frühjahr gestorben ist. Auch der Dirigent Giuseppe Sinopoli. Heuer ist es einer der Chorsänger.

Zwölf Jahre lang hat Ebersberger im Festspielrestaurant gejobbt. Er weiß also in jeder Beziehung um all die Abhängigkeiten seiner Stadt von dem, was auf dem Hügel vor sich geht. Um zu retten, was zu retten war, stampften er und andere 2020 "Bayreuth Summertime" aus dem Boden. Ein Kulturprogramm, das sich an die Menschen aus der eigenen Region richtete: bunt, niederschwellig, fröhlich, mit Musik von Klassik bis Pop, auch Theater und Lesungen. Auch in diesem Sommer findet es wieder statt - parallel zu den Festspielen.

Die sind nun also wieder zurück, aber anders. Historisch anders. Weniger als die Hälfte der Zuschauer dürfen ins Festspielhaus, nur 911. Einen Roten Teppich wird's nicht geben zur Eröffnung, in vergangenen Zeiten hätte man gesagt: horribile dictu. Und der Festspielchor? Wird aus dem Probesaal ins Festspielhaus übertragen. In dem Saal außerhalb des Hauses stehen Sänger mit Kopfhörern vor Mikrofonen.

Einer, der den Hügelunterschied zwischen den Zeiten vor und während Corona wie kaum ein anderer kennt, ist Georg Zeppenfeld. Seit elf Jahren ist er bei den Festspielen zu hören, 2015 als König Marke in Katharina Wagners "Tristan", mitunter in drei unterschiedlichen Rollen und Produktionen pro Saison. In der Gemeinde der Wagnerianer gilt er bei vielen inzwischen als der heimliche Hügellieblingsdarsteller. Wer Synonyme für "überragend" wissen will, darf im Archiv die Feuilletons der Republik nach Einträgen zu "Zeppenfeld" befragen. So viel Einmütigkeit, dass da einer außerordentlich ist, liest man selten.

Treffen also mit Zeppenfeld am Hügel, kurz hinter dem neuen Flachbau, den man als hybriden Buchladentoilettenkiosk beschreiben müsste. Durchaus gelungen, aber sündhaft teuer geraten, daher war der vorab schon lokales Erregungsthema, insofern also doch wieder manches beim Alten in Bayreuth. Wie also ist das Singen in Zeiten von Corona? Wer zwei Meter entfernt von Zeppenfeld auf einer baumbeschatteten Parkbank hockt, bekommt bei der ersten Antwort mitten im Bayreuther Sommer Gänsehaut. Was für ein Bass. Ja, sagt Zeppenfeld, der Daland in der Premiere des Fliegenden Holländers, es liege schon "Mehltau" auf dieser Saison, keine Frage.

Was jenseits des Hügels wenige glauben mögen: Tatsächlich gilt Bayreuth bei den Künstlern auch als ein sommerleichtes Ferienlager. Für Zeppenfeld war das immer so. Man trifft sich, hat Zeit füreinander, kommt irgendwo in lieblicher Umgebung unter. Zeppenfeld, das immerhin ist wie beim letzten Mal, wohnt derzeit in einem Ferienhaus über Doppelgarage im Bayreuther Land und kann da so laut singen, wie er möchte. "Trete ich vor die Tür, bin ich in drei Minuten im Wald, wo ich nur Rehen, Hirschen, hoffentlich keinen Wildschweinen begegne." Ein Traum in Franken.

Auf dem Hügel aber ist alles anders diesmal. Beim Hinaufpilgern scheint noch alles einigermaßen beim Alten zu sein, außer ein paar Sonderaufbauten. Hinterm Festspielhaus aber ist das Areal gerade nicht wiederzuerkennen. Eine Zeltstadt ist da gelandet, von Weitem wirkt sie, als hätte sich ein Verhüllungskünstler gerade in Bayreuth ausgetobt. Verwaltung und Betriebsbüro und allerlei andere Gewerke arbeiten in Containern, jedenfalls ist das draußen so zu hören, es herrschen dort strenge Zugangsbeschränkungen, klar. Die einzelnen Produktionen bilden jeweils eine eigene Blase, man kann also nicht "einfach mal zu einem Kollegen rüber und ihn umarmen", erzählt Zeppenfeld. Daher der Mehltau. Auch das Bühnengefühl ist ein anderes, sagt Zeppenfeld. Wenn der Chor mit auf der Bühne stehe, übe dieser "einen unglaublichen Sog aus". Und für die Sitzproben des Orchesters im Restaurant würde Zeppenfeld sogar bezahlen, "phänomenal", erzählt er. Geht alles nicht diesmal.

Andererseits: Was ist das alles, wenn man bedenkt, dass ein Virus über Monate Zeppenfelds Berufsstand bedroht hatte - und Katharina Wagner, die Hügelchefin, noch vor wenigen Monaten einer schweren Erkrankung wegen um ihr Leben gerungen hat? Zeppenfeld stammt aus dem Süden des Sauerlands, das ist keine Region für operettenhafte Charaktere. Über Wagner aber ist bei Zeppenfeld sogar leichtes Pathos zu hören: "Katharina hat unglaubliche Energie, sie macht das ziemlich gut, ich bin da einigermaßen begeistert."

Bayreuth also im Zeichen der Hoffnung. Auch OB und Tourismusbüro sind zufrieden mit dem Notprogramm, das sie auf die Beine gestellt haben. Im August 2020 verzeichneten sie mehr deutsche Übernachtungen als in den Jahren zuvor. Auch wenn die Auslastung der Betten um 15 Prozent zurückging und die Festival-Preise nicht zu halten waren, man hat sich doch dagegen gestemmt, gegen die Katastrophe.

Für alle, die heuer vom Glück im Unglück profitieren wollen, haben sie in Bayreuth einen Tipp: Es wird erwartet, dass die ganzen Festspiele über immer wieder noch Karten zu haben sein werden. Denn es gebe viele internationale Wagner-Freunde, die der Pandemie wegen im letzten Moment nicht reisen können. Deren Karten wandern dann zurück in den Verkauf. Wer eine erwirbt, hört am Ende, wer weiß, vielleicht sogar Georg Zeppenfeld, wie er singt: "Was hilft's? Geduld! Der Sturm lässt nach; wenn so er tobte, währt's nicht lang."

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Quelle:
SZ vom 23.07.2021/kafe
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