80 Jahre Befreiung„Es war kein normales Leben. Aber es war ein Leben.“

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Im ehemaligen Steinbruch des Konzentrationslagers Flossenbürg mussten Tausende Häftlinge Zwangsarbeit verrichten. Viele starben an den Strapazen. Erst 2024 endete dort der Abbau von Granit.
Im ehemaligen Steinbruch des Konzentrationslagers Flossenbürg mussten Tausende Häftlinge Zwangsarbeit verrichten. Viele starben an den Strapazen. Erst 2024 endete dort der Abbau von Granit. (Foto: Armin Weigel/dpa)

Lydia Tischler kam als Zwangsarbeiterin über Theresienstadt und Auschwitz nach Flossenbürg. Im Außenlager Oederan musste sie Munition für die Nazis herstellen. Zum 80. Jahrestag der Befreiung spricht sie über den Versuch, im KZ ein Stück Leben zu bewahren.

Von Joshua Sprenger

Ihren 16. Geburtstag feiert Lydia Tischler am Neujahrstag 1945 in Oederan, einem Außenlager des KZ Flossenbürg. Von den Aufseherinnen bekommt sie einen extra Teller Suppe. Sich selbst beschenkt sie mit einem Stück Brot, bestreut mit etwas Zucker und auf dem Heizungsrohr getoastet. „Das war mein Geburtstagskuchen“, sagt Tischler heute und lacht. Wenn man die 96-Jährige nach ihrer Zeit in Oederan fragt, lächelt sie sogar und beginnt, Anekdoten zu erzählen.

Wie sie sich mit den anderen Häftlingen auf Tschechisch über die Aufseherinnen lustig machte, weil diese nur Deutsch sprachen. „Wir waren gebildeter als die“, sagt Tischler. Wie der Vorarbeiter überrascht ausrief: „Du blutest ja“, als sie sich ihren Finger in einer Schubkarre einklemmte. Wie sie und ihre Schwester Brot versteckten, weil es sonntags keine Ration gab. „Es war kein normales Leben. Aber es war ein Leben.“ Nur ein einziges Mal habe sie eine Ohrfeige bekommen – weil sie zu spät kam. „Im Vergleich zu Auschwitz war Oederan schon fast ein Erholungsort“, sagt sie und betont dabei das Wort fast.

Für den 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Flossenbürg durch die US-Armee ist Lydia Tischler eigens aus Großbritannien nach Deutschland gekommen. Seit den 1950er-Jahren lebt sie dort. In Flossenbürg selbst ist sie nun zum ersten Mal – bisher hatte sie zweimal das Außenlager Oederan in der Nähe von Chemnitz besucht, in dem sie interniert war.

Zahlreiche Überlebende und ihre Angehörigen aus der ganzen Welt sind zum Gedenkakt an diesem Sonntag in die Oberpfalz gereist, darunter auch Max Emanuel Herzog in Bayern, der als Sonderhäftling mit seiner Familie in Flossenbürg inhaftiert war. Auch der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU), Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) und die amtierende Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) nehmen an der Gedenkfeier teil.

Das Konzentrationslager Flossenbürg wird 1938 gegründet. Die SS will die dortigen Granitvorkommen von Zwangsarbeitern abbauen lassen. In den sieben Jahren seines Bestehens sind rund 100 000 Menschen in Flossenbürg inhaftiert, 30 000 von ihnen werden getötet. Ab 1942 baut das NS-Regime ein weitverzweigtes Netz von Außenlagern auf – allein Flossenbürg unterhält etwa 80 solcher Außenstellen. Dazu gehört auch das Lager Oederan, das im September 1944 errichtet wird. Einen Monat später trifft Lydia Tischler dort mit 501 weiteren jüdischen Frauen ein. Sie wird unter der Häftlingsnummer 59211 registriert – als Insassin des KZ Flossenbürg mit Internierung in Oederan.

Lydia kam als 15-Jährige nach Oederan, in ein Außenlager des KZ Flossenbürg.
Lydia kam als 15-Jährige nach Oederan, in ein Außenlager des KZ Flossenbürg. (Foto: Joshua Sprenger)

Untergebracht sind die Frauen in einer ehemaligen Nähfadenfabrik der Firma Kabis. Weil Nähfaden im Zweiten Weltkrieg keine Hochkonjunktur hat, übernimmt die Deutsche Kühl- und Kraftmaschinen GmbH das Gelände, um dort Munition herzustellen. Zunächst muss Lydia Tischler im Straßenbau arbeiten, später in der Fabrik selbst bei der Munitionsproduktion. Die Arbeit sei hart gewesen, erzählt sie heute. Aber sie habe dabei auch vieles gelernt: „Das sind ja Dinge, mit denen sich ein 16-jähriges Mädchen normalerweise nicht auseinandersetzt.“

Tischlers Art, über Oederan zu erzählen, die positiven Dinge hervorzuheben, irritiert. Doch vielleicht ist das weniger überraschend, wenn man bedenkt, dass sie als 15-Jährige nach Auschwitz kam. Nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch das nationalsozialistische Deutschland wird Tischler aufgrund ihrer jüdischen Herkunft gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester nach Theresienstadt deportiert. Ihr Vater ist da bereits nach Großbritannien geflohen.

Als die Nazis ihre Mutter und Schwester nach Auschwitz schicken, meldet sich Lydia Tischler freiwillig: „Ich dachte, es ist wichtig, dass wir als Familie zusammenbleiben.“ Mitten in der Nacht kommen sie in Auschwitz an. An der Rampe steht der Lagerarzt Josef Mengele und selektiert die Häftlinge. Tischlers Mutter wird nach rechts geschickt – der Weg in die Gaskammern. Die beiden Schwestern hält Mengele für arbeitsfähig; sie müssen nach links. Drei Tage später werden sie in einen Waggon nach Oederan verfrachtet.

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Im Frühjahr 1945, als die US-Truppen näher rücken, wird das Außenlager am 14. April evakuiert. Tischler und ihre Mithäftlinge werden in Viehwaggons nach Böhmen transportiert, bis sie nach langer Irrfahrt im KZ Theresienstadt ankommen. Dort befreit die Rote Armee das Lager. Nach dem Krieg kehrt sie in ihre Geburtsstadt Ostrava in der Tschechoslowakei zurück, fühlt sich dort jedoch nicht mehr zuhause. „Dann habe ich meinen Vater per Zeitungsanzeige gefunden“, sagt sie. Sie zieht nach Großbritannien, wo sie am Institut von Anna Freud, Tochter von Sigmund Freud, Psychologie studiert.

Tischler findet vor allem Spaß an der Arbeit mit Kindern. Ihren Berufswunsch habe sie in ihrer Zeit in Theresienstadt gefasst. Nach der Befreiung durch die sowjetische Armee trifft sie einen tschechischen Mönch, der ein Waisenhaus aufbaut. Sie beginnt mit ihm zu arbeiten. „Diese Kinder waren vom Krieg traumatisiert. Da habe ich realisiert, dass ich mit Kindern arbeiten und ihnen helfen möchte.“ Später engagiert sie sich bei einer europäischen Dachorganisation für psychoanalytische Psychotherapie und versucht diese Arbeit in der damaligen Tschechoslowakei zu stärken. Tischler ist verbunden mit ihrem Heimatland, trotzdem versteht sie sich nicht als Tschechin. Genauso wenig wie als Britin. „Ich bin auf eine jüdische Schule gegangen, ich wurde jüdisch erzogen. Die jüdische Vergangenheit ist die Einzige, mit der ich wirklich etwas verbinde.“

Tischler nutzte ihren ersten Besuch in Flossenbürg, um der Gedenkstätte ein Zeitzeugeninterview zu geben. Bisher waren nur wenige Informationen über ihre Zeit im Außenlager Oederan bekannt. Am Montag wird sie von Flossenbürg nach Oederan weiterfahren, um in einer Schule über ihre Erfahrungen im KZ zu berichten. Die Arbeit mit Kindern ist ihr auch mit 96 Jahren noch wichtig.

Beim Gedenkakt wurde auch die zukünftige Erinnerungsarbeit in Flossenbürg thematisiert. Bis 2024 wurde auf dem ehemaligen KZ-Gelände Granit abgebaut, was immer wieder kritisiert worden war. Der Pachtvertrag zwischen dem Freistaat und dem Unternehmer lief Ende letzten Jahres aus. Geplant ist nun, den Steinbruch in die Gedenkstätte zu integrieren. Ministerpräsident Markus Söder betonte in seiner Rede, dass KZ und Steinbruch untrennbar miteinander verbunden seien, da unzählige Häftlinge dort für die Nazis Granit abbauen mussten. Kulturstaatsministerin Claudia Roth pflichtet ihm bei und stellte einen Zuschuss des Bundes für die Eingliederung des Steinbruchgeländes in die Gedenkstätte in Aussicht. Solche Orte leisten einen wichtigen Beitrag in der Bildungsarbeit mit jungen Menschen, sagte Roth.

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