Süddeutsche Zeitung

Förster:Wie die bayerischen Wälder sterben

In Ostbayern erwischt es die Fichten, in Franken vertrocknen die Kiefern. Innerhalb weniger Jahre haben die Schäden ein gewaltiges Ausmaß angenommen - und das dürfte nur der Anfang sein.

Von Andreas Glas und Christian Sebald

Ob es losgehen kann, rein in den Wald? Hans-Jürgen Roth schiebt die Augenbrauen nach oben. Wald? Er sagt: "Es gibt keinen Wald. Der ist weg." Dann stapft er doch los, den Hang hinauf. Erst sind da noch Fichten, links und rechts. Dann, nach zwei Minuten, bleibt er stehen. Hier stehen keine Fichten mehr, hier hat der Wald ein Loch, groß wie ein Fußballplatz. "Alles hin", sagt Roth, 49, kurzrasiertes Haar, Dreitagebart.

Ein Donnerstag im Bayerischen Wald, in Hötzhof. Hier hat Hans-Jürgen Roth seinen Bauernhof, 26 Milchkühe. Hier hat er seine Bäume, 25 Hektar, es werden immer weniger. Vor einer Woche hat ein Harvester das fußballplatzgroße Loch in seinen Wald gehauen. Die Reifenspuren sind noch frisch. Etwa 150 Bäume hat der Harvester plattgemacht. Alles Fichten, hier standen ja nur Fichten. Jetzt sind da nur noch Baumstümpfe, einer neben dem anderen. Die 150 Stämme liegen am Fuß des Hangs, entrindet und aufgestapelt. Abholbereit, für einen Spottpreis.

Der Wald stirbt. Und die Waldbauern verzweifeln. "Da stehen ausgewachsene Männer vor mir, 1,90 Meter und 100 Kilo, und schreien", sagt Katharina Schwarz, die mit Hans-Jürgen Roth den Hang hinaufgestiegen ist. Schwarz, 40, ist Försterin im Revier Schönberg (Kreis Freyung-Grafenau). Sie betreut, begleitet und berät die Einsneunzig-Waldbesitzer im Kampf gegen einen Fünf-Millimeter-Schädling: den Borkenkäfer. Er ist winzig, aber praktisch unbesiegbar. Wer den Käfer bezwingen will, muss seinen eigenen Wald kurz und klein hauen. "Wir sind überrollt worden", sagt Försterin Schwarz.

Vom Waldsterben 2.0 sprechen die Naturschützer. Das Waldsterben 1.0, in den Achtzigerjahren, betraf vor allem die Mittelgebirge in DDR und Bundesrepublik. Etwa Erzgebirge und Harz, denen der saure Regen zusetzte, verursacht durch schwefelhaltige Rauchgase der umliegenden Braunkohlekraftwerke. Mittels Rauchgas-Entschwefelungsanlagen konnte das Waldsterben 1.0 gestoppt werden. Hatten die deutschen Kraftwerke in den Siebzigern noch 7,5 Millionen Tonnen Schwefeldioxid pro Jahr ausgestoßen, waren es nach der Jahrtausendwende 0,5 Millionen.

Und jetzt? Ist alles viel komplizierter, viel gewaltiger. Überall Dürre, Stürme, Borkenkäferplagen. Das Waldsterben 2.0 ist kein lokales Phänomen, sondern Folge der weltweiten Klimakrise. Beim Waldsterben in den Achtzigern gab es Baumarten, die resistent waren gegen Schwefeldioxid. Doch für die Klimakrise ist jede Baumart anfällig, da sich die Wuchsbedingungen generell verändern. Im Bayerwald macht die Krise vor allem jenem Baum zu schaffen, der für diesen Landstrich so charakteristisch ist: der Fichte.

"Man schaut zum Fenster raus und denkt: alles grün, kein Problem", sagt Wolfgang Kreuzer. Doch wer genau hinschaut, kann die Flecken in den Wäldern sehen. Kreuzer, 54, ist Forstchef im Landkreis Freyung-Grafenau. Er steht an einem Straßenrand, drei Kilometer nördlich von Hötzhof. Kreuzer legt die Handkante an die Stirn und schaut rüber zum Hohen Sachsen, 752 Meter hoch. Wie ein Schleier hat sich das Braun der Fichtennadeln über den Berg gelegt. Überall, wo die Spitzen braun sind, stehen tote Bäume. Alle Opfer des Borkenkäfers, die fix raus müssen aus dem Wald. Damit der Käfer nicht noch mehr Schaden anrichtet. Bald, sagt Kreuzer, sehe der Hohe Sachsen aus "wie ein Schweizer Lochkäse".

25 Euro

ist der aktuelle Preis je Festmeter Fichtenholz, auf den sich Waldbesitzer im Bayerischen Wald einstellen müssen, wenn sie ihre Fichten wegen Borkenkäferbefalls fällen lassen müssen. Das deckt knapp die Kosten für die Waldarbeiter und das schwere Gerät, das dafür nötig ist. Bayernweit sind die Preise mit 40 bis 50 Euro je Festmeter Käferholz etwas besser. Noch vor zwei Jahren konnten private Waldbesitzer je Festmeter frisch geschlagene Fichte zwischen 70 und 85 Euro erzielen. Bei den Staatsforsten waren es sogar bis zu 100 Euro.

In der Klimakrise ist die Fichte das perfekte Opfer. Bei Stürmen knickt sie leichter um als andere Bäume. Sie hat dann Probleme, sich im Boden festzukrallen. Wegen ihrer flachen Wurzeln, die noch einen Nachteil haben: Sie tun sich besonders schwer, Wasser aus trockenen Böden aufzunehmen. Dieses Wasser aber braucht die Fichte, um ihre Waffe gegen den Borkenkäfer zu produzieren: Harz. Ein Teufelskreis, kein Ausweg in Sicht. Wird die Fichte im Bayerwald aussterben? Er habe noch Hoffnung, sagt Kreuzer. Es gebe hier ja auch viele Mischwälder. Zwischen Eichen und Buchen sind die Fichten besser gegen den Käfer geschützt. Kreuzer sagt aber auch: "Im Passauer Raum und im Rottal wird es Gegenden geben, wo die Fichte wohl nicht überleben wird."

Während in Niederbayern die Fichten sterben, vertrocknen in Franken und Teilen der Oberpfalz die Kiefern. Besonders gut ist das im Nürnberger Norden zu beobachten, in Würzburg, in der Region Neustadt an der Aisch. Dort ragen die Kiefernstämme mit der groben, schuppigen Borke aufrecht und hoch in den Himmel. Doch wegen der Trockenheit leuchten die Baumkronen nun rostrot, nicht mehr sattgrün. Auf dem Waldboden liegt ein dichter Teppich aus dürren Nadeln, von den Bäumen abgeworfen. Die Kiefern sind alle tot. Die Todesursache: Hitze und Trockenheit. Keiner weiß genau, wie viele Kiefern es getroffen hat in den kurzen, heftigen Hitzespitzen im Juni und Juli. Denn auch dort sehen Förster und Waldbesitzer zu, dass sie die toten Bäume rasch fällen und abtransportieren. In einigen Wäldern in Franken können es fünf bis zehn Prozent sein.

Christian Kölling, Förster und Vize-Chef am Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten im mittelfränkischen Roth, war einer der ersten, die gewarnt haben, dass die Kiefer der Klimakrise nicht standhalten wird. Vor drei Jahren hat Kölling erstmals größere Dürreschäden in den Kiefernwäldern in seiner Region beobachtet und auf den langen, heißen und trockenen Sommer 2015 zurückgeführt. Am 8. August 2015 waren in Kitzingen 40,3 Grad gemessen worden, Deutschland-Rekord seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. "Die Kiefer leidet an den Extremen", sagt Kölling. "Schon kurze heftige Hitzeperioden, bei denen um die 40 Grad erreicht werden, kombiniert mit Trockenheit machen ihr schwer zu schaffen."

Bei solchen Temperaturen versagt das Kühlsystem der Kiefern. Die Bäume bringen nicht genug Wasser in ihre Kronen hinauf. Sie verbrennen, verdorren. Die Kiefern sterben aber nicht nur am schnellen Hitzetod. Wie bei der Fichte begünstigt die Klimakrise die Ausbreitung von Schädlingen und Parasiten. Diploida pinea etwa ist ein aggressiver Pilz, der das Kieferntriebsterben verursacht. Er befällt geschwächte Bäume, lässt ihre jungen Triebe verkümmern. Lange galt die Kiefer als gut gewappnet für die Klimakrise. Sie ist ja eine anspruchslose Baumart, die auch auf kargen Böden gut wächst. Christian Kölling dagegen sagte schon 2016, "dass wir uns verabschieden werden müssen von der Kiefer als Wirtschaftsbaum". Dass der Abschied so schnell kommt, wie sich nun abzeichnet, hätte aber selbst er nicht erwartet.

"Eine klimatische Explosion", sagt auch Forstchef Kreuzer. Keiner habe damit rechnen können, "keiner ist schuld", das ist ihm wichtig. Kreuzer kennt ja den Vorwurf, der im Raum steht: Dass die Waldbesitzer zur Misere beigetragen haben, indem sie statt Mischwälder zu lange Fichten in Monokulturen gepflanzt haben. Mit rasch wachsenden Bäumen lässt sich schnelleres Geld verdienen. Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus? "Mit Schuldzuweisungen kommen wir keinen Millimeter weiter", sagt Kreuzer. Auch Xaver Hartinger nimmt die Waldbesitzer in Schutz. Viele hätten längst angefangen, die Wälder umzubauen und ihre Baumbestände zu durchmischen, sagt der Geschäftsführer der Waldbesitzervereinigung (WBV) im Landkreis Freyung-Grafenau. "Aber das ist uns aus den Händen genommen worden. Der Käfer hat den Umbau überholt", sagt Hartinger.

Schock und Ratlosigkeit. Das sind zwei Gefühlslagen, die man im Gespräch mit Waldbesitzern und deren Interessensvertretern spürt. Schock, weil offenbar niemand das Waldsterben kommen sah. Ratlosigkeit, weil keiner weiß, welche Überraschungen die Klimakrise noch bereithält. "Die Leute wissen noch gar nicht, was auf sie zukommt", sagt Katharina Schwarz, die Försterin. Dazu komme die körperliche und psychische Belastung bei der Bekämpfung des Borkenkäfers. Wenn es ein Hochwasser gebe, "gehen die Bilder um die Welt", sagt Schwarz. Die Not der Waldbesitzer nehme dagegen kaum jemand wahr. Dabei "schauen die genauso aus" wie Menschen, die sich gegen eine Flut stemmen, "patschnass und verschwitzt".

Die Försterin, der Waldbauer, alle reden im Katastrophenjargon. Beunruhigend, wenn man weiß, dass dieser Menschenschlag nicht zur Hysterie neigt. Erst recht nicht im Bayerwald. Aber jetzt weiß eben keiner, wann es besser wird, ob überhaupt. "Wir wissen nicht: Surfen wir auf dem Bug der Welle oder auf der Spitze?", sagt WBV-Geschäftsführer Hartinger. Er beschreibt den Kampf der Waldbesitzer gegen den Borkenkäfer wie das Wettrennen zwischen Hase und Igel. Kaum habe man die eine Fläche abgeholzt, habe der Käfer die nächste erobert. "Und dann kommt die nächste Fläche und die nächste und es hört nicht mehr auf", sagt Hartinger. "Man arbeitet sich tot, man ist psychisch fertig."

Was gerade in Bayerns Wäldern geschieht, ist nur der Anfang, darauf deutet alles hin. So wie die Klimakrise nicht rasch aufzuhalten ist, wird auch das Waldsterben nicht kurzfristig zu stoppen sein. Die Klimaerwärmung ist ein träges System. Aktuelle Maßnahmen entfalten ihre Wirkung mit jahre- oder jahrzehntelanger Verzögerung. Dennoch müsse die Forstwirtschaft auch kurz- und mittelfristig rentabel bleiben, "ein Waldbesitzer engagiert sich nur, wenn es einen Sinn ergibt", sagt Forstchef Kreuzer. Er weiß: Nichtstun ist die schlechteste aller Optionen. Gerade in der Klimakrise braucht der Mensch den Wald als CO₂-Fresser.

Für das Waldsterben, sagt Försterin Schwarz, gebe es nur "eine Antwort, das ist die Mischung". Eine Antwort, aber keine sichere Lösung. Weil keiner genau weiß, wie stabil andere Baumarten sind, wenn sich das Klima weiter so rasant verändert. Erfahrungswerte gibt es ja keine. Zudem hat nicht nur die Fichte natürliche Feinde. Mehr Tannen und Buchen etwa könnten Rehe und Hirsche locken, die sich in den Bäumen verbeißen, deren Wachstum stören. Und schon jetzt gebe es mancherorts Probleme mit dem krummzähnigen Tannenborkenkäfer, sagt Schwarz. Man müsse "ausprobieren", welche Baummischung die beste sei. "Wir können nur hoffen, dass wir die Zeit dafür noch kriegen."

Die Zeit bleibt vorerst auch die Gegnerin des Waldbauern Hans-Jürgen Roth. Gerade hat er sich auf den Rückweg gemacht, gerade stapft er den Hang hinunter, als Katharina Schwarz neben ihm stehen bleibt, neben einer der Fichten, die links und rechts des Weges stehen. Sie bückt sich, greift mit der Hand in das Spinnennetz am Stammfuß der Fichte. An ihren Fingern bleiben braune Brösel haften. Das Bohrmehl des Borkenkäfers. Sie zerreibt die Brösel und sagt: "Jetzt wird es deprimierend." Waldbauer Roth sagt nichts. Er seufzt nur. Er weiß jetzt: Sein Wettrennen mit dem Käfer geht in die nächste Runde.

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SZ vom 31.08.2019/fema
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