Proteste gegen die WAAEskalation in Wackersdorf: Polizei setzte Gas gegen Demonstranten ein

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Immer wieder kam es rund um die geplante Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf zu Zusammenstößen von Polizei und Demonstranten. Oft ging es gewaltsam zu.
Immer wieder kam es rund um die geplante Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf zu Zusammenstößen von Polizei und Demonstranten. Oft ging es gewaltsam zu. (Foto: dpa/SZ Photo)

Die Proteste gegen die geplante Wiederaufbereitungsanlage in der Oberpfalz begleitet die SZ viele Jahre lang. Immer wieder eskaliert die Situation und es gibt Verletzte. Zum 80. SZ-Jubiläum hier der Originaltext vom 2. April 1986.

Von Hannes Krill

„Das hat uns gerade noch gefehlt.“ Franz-Xaver Schmid, der Vorsitzende der „Ärzteinitiative für Frieden und Abrüstung“, ist fassungslos und erbittert. Die Wasserkanister sind weg. Die Polizei hat sie beschlagnahmt Schmid starrt auf einen Zettel, auf dem ihm das mitgeteilt wird: „Mit freundlichen Grüßen. Ihr Bundesgrenzschutz.“ Womit sollen Schmid und seine Ärztekollegen und Helfer, die zwischen Kundgebungsplatz und Bauzaun ein Notlazarett errichtet haben, nachher die vom CS- und CN-Gas verätzten Augen der Demonstranten ausspülen?!

Die Ärzte beschließen, neues Wasser zu besorgen. Die Zeit ist knapp. Hilfe ist an diesem Ostermontag vom Bayerischen Roten Kreuz nicht zu erwarten. Das BRK ist auf dem Gelände, auf dem in zwei Stunden die bisher größte Demonstration gegen die atomare Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf stattfinden soll, nicht präsent. „Wir haben auf solchen Veranstaltungen schlechte Erfahrungen gemacht. Unsere Einsatzfahrzeuge wurden von den Menschenmassen blockiert“, begründet Hans Deinhart vom Roten Kreuz in Schwandorf die Zurückhaltung seiner Organisation, die in Wackersdorf und an den Autobahnausfahrten – viele Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt – Rettungsleitstellen eingerichtet hat. Verletzte sollen mit den Polizeihubschraubern vom Demonstrationsort ausgeflogen werden.

Diese Hubschrauber, zeitweise drei zugleich, kreisen schon Stunden vor Kundgebungsbeginn in Baumwipfelhöhe über den Teilnehmern der Veranstaltung. Das ständige Pfeifen der Triebwerke und das Geknatter der Rotoren weckt selbst bei den friedfertigsten Demonstranten Unmut und Aggressionen. Auf den Zufahrtsstraßen stauen sich Tausende von Autos. Im Autoradio können die Demonstranten schon auf der Anfahrt hören, um welche Art von Menschen es sich bei ihnen handelt. Da wird nämlich Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann zitiert, der der Bonner Zeitung Die Welt anvertraut hatte, Wackersdorf sei zum neuen Schlachtfeld für Chaoten und Linksextremisten geworden. „Demokraten sollten sich fernhalten.“

Mehr als 100 000 Demonstranten, wie die Veranstalter schätzen (die Polizei spricht von rund 30 000), lassen sich von solchen Warnungen nicht beeindrucken. Gegen 14 Uhr bevölkert eine unüberschaubare Menschenmenge den Kundgebungsplatz und die Zufahrtswege zum Baugelände. Während auf einem Platz rund 500 Meter von der Einzäunung entfernt das Kulturprogramm beginnt, kommt es am Bauzaun zu Auseinandersetzungen zwischen etwa 150 vermummten Demonstranten und der Polizei. Eine Stunde zuvor waren anonyme Flugblätter aufgetaucht, auf denen die Kundgebungsteilnehmer zum Einreißen des Bauzauns aufgefordert wurden: „Wir sind nicht hier, um stundenlang Kultur zu konsumieren.“

Die Gruppe der Störer ist klein, 150 bis 200 Personen. Friedliche Demonstranten versuchen, eine Menschenkette zu bilden und die Vermummten abzudrängen. Sie haben zunächst Erfolg. Doch dann hält die Polizei mit 40 Wasserwerfern, die sich abwechseln, in die Menge. Die Menschenkette reißt. Die Leute fliehen. Doch es ist nicht das Wasser allein, das die Demonstranten in die Flucht schlägt. Einen Tag später wird die Polizei erklären, daß sie dabei neben dem bereits bewährten Reizstoff CN erstmals in Bayern auch das umstrittene und wesentlich wirksamere Reizgas CS versprüht hat.

Bürgerkriegsähnliche Zustände ist keine übertriebene Beschreibung für die Zustände rund um Wackersdorf in den 1980er-Jahren.
Bürgerkriegsähnliche Zustände ist keine übertriebene Beschreibung für die Zustände rund um Wackersdorf in den 1980er-Jahren. (Foto: Goetz/Associated Press)
Die Polizei setzte regelmäßig Wasserwerfer gegen die Demonstranten ein.
Die Polizei setzte regelmäßig Wasserwerfer gegen die Demonstranten ein. (Foto: imago stock&people/imago/Joker)

Wie wirksam dieser Stoff ist, bekommen neben der kleinen Gruppe der Störer auch Tausende von friedlichen Bürgern, darunter Rentner, Mütter und Kinder, zu spüren. Kinder, auf deren Gesichtern sich ein fleckiger Ausschlag bildet, schreien wie am Spieß. Gasgranaten schlagen in der Menge ein, die sich mit tränenden Augen vom Zaun zurückzieht. Im Notlazarett haben Franz-Xaver Schmid und seine Helfer alle Hände voll zu tun. 68 Demonstranten und vier Helfer, die es besonders schlimm erwischt hat, werden versorgt. Viele von ihnen haben verätzte Augen und Lungen. Schmid verabreicht seinen Patienten Cortison, „zur Vorbeugung gegen ein Lungenödem“. Denn CS-Gas ist, wie der Arzt dem „Lehrbuch der Wehrmedizin“ entnommen hat, ein „chemischer Lungenkampfstoff“, ein Kampfgas also, das „seine tückische Wirkung oft erst Stunden später entfaltet“.

Schmid weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, daß nur gut zwei Kilometer entfernt ein 38-jähriger Demonstrant mit Atembeschwerden zusammengebrochen ist. Er stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus. Sein Tod, teilt die Polizei am Abend mit, stehe in keinem Zusammenhang mit dem Polizeieinsatz und den Vorgängen am Bauzaun. Mit dieser lapidaren Erklärung wollen sich die Grünen im Bundestag jedoch nicht zufriedengeben. Sie haben inzwischen eine genaue Untersuchung des Vorfalls gefordert.

Nach Angaben des Oberstaatsanwalts Karlheinz Häusinger von der zuständigen Justizbehörde in Amberg hat die Obduktion der Leiche ergeben, daß der Mann an Asthma gelitten habe und bei einem akuten Anfall dieser Krankheit erstickt sei. Ein Zusammenhang mit dem erstmals in Bayern eingesetzten CS-Reizgas sei unwahrscheinlich. Um hier aber völlige Klarheit zu bekommen, habe er eine toxikologische Untersuchung des Verstorbenen angeordnet.

Wie gefährlich das von der Polizei erstmals eingesetzte CS-Gas tatsächlich ist, erläuterte am Dienstag der Chef des Toxikologischen Zentrums der Technischen Universität München, Max Dauderer. Bei der Anwendung dieses giftigen Lungenreizstoffes in geschlossenen Räumen sei es zu Todesfällen gekommen. Demonstranten, die dem CN- und CS-Einsatz – wie in Wackersdorf – bis zu einer halben Stunde getrotzt haben, droht nach Darstellung Dauderers eine Lungenschädigung, die sich unter Umständen erst in zwei Wochen bemerkbar machen werde. Dauderer empfahl Demonstranten, die von Wasserwerferstrahlen mit CS-Zumischung erfaßt wurden, ihre Kleider nicht in geschlossenen Räumen zum Trocknen aufzuhängen. Das CS-Gas entfalte seine volle Wirkung nämlich erst, wenn es von den Kleidern verdampfe.

Nach Ansicht des SPD-Bundestagsabgeordneten Ludwig Stiegler sind beim Einsatz der Polizei in Wackersdorf „Ansätze von Staatsterrorismus“ sichtbar geworden. Es habe für die Polizei keinen Grund gegeben, derart massiv von den Distanzmitteln Gebrauch zu machen. „Die Polizei hat ziemlich grundlos Wasserwerfer und Reizstoffe auch gegen Schaulustige und Neugierige eingesetzt. Wer so vorgeht, erzeugt Staatsverdrossenheit.“

Am Bauzaun demonstrierten Tausende Menschen gegen die WAA – die allermeisten friedlich.
Am Bauzaun demonstrierten Tausende Menschen gegen die WAA – die allermeisten friedlich. (Foto: Horst Schaefer/Associated Press)

Der Spitzenkandidat der bayerischen SPD und stellvertretende Fraktionsvorsitzende im Landtag, Karl-Heinz Hiersemann, der die Demonstration in Wackersdorf als „großartigen Erfolg für den gewaltlosen Widerstand gegen die WAA“ wertet, forderte am Dienstag eine parlamentarische „Nachbehandlung“ im Maximilianeum. Die „Scharfmacher der Staatsregierung“ hätten die Atmosphäre mit ihren ständigen Warnungen vor großangelegten Gewaltaktionen schon im Vorfeld der Demonstration aufgeheizt. Nachdem die Veranstaltung jedoch „ohne nennenswerte Zwischenfälle“ verlaufen sei, wie selbst die Polizei eingeräumt habe, verschlage es der Staatsregierung die Sprache. Sie müsse jetzt endlich damit aufhören, die SPD und andere Gegner der WAA mit „Chaoten, Staatsfeinden und Terroristen“ gleichzusetzen. Vor allem Justizminister August Lang habe Anlaß, diesbezügliche Vorwürfe zurückzunehmen.

Dazu sehen CSU und Staatsregierung offenbar keinen Anlaß. Der Vorsitzende der WAA-Koordinierungsgruppe, Bayerns Wirtschafts-Staatssekretär Georg von Waldenfels, rügte die Demonstration in Wackersdorf als „zweifelhafte Frontmache“ gegen die Industriegesellschaft. Niemand könne jetzt noch höflich über den „Schulterschluß“ der SPD mit „Kommunisten, Anarchisten und Chaoten“ hinwegsehen. Innenministerium und CSU-Landtagsfraktion bezeichneten den Polizeieinsatz als „besonnen und erfolgreich“. Innenminister Karl Hillermeier erklärte, CS-Gas sei verwendet worden, weil „Gewalttäter und Chaoten“ mit anderen Mitteln nicht daran zu hindern gewesen seien, den Bauzaun zu beschädigen. „Mehrere tausend Neugierige oder Sympathisanten“, die zur Einzäunung gekommen seien, hätten „zwangsläufig die Arbeit und den Zugriff der Polizei gegen die Chaoten erschwert“.

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Hillermeier verteidigte erneut die Räumung von zwei Zeltlagern, bei der die Polizei, wie berichtet, bereits am Samstag 280 und am frühen Montagmorgen weitere 43 Personen festgenommen hatte. Sie wurden inzwischen ebenso freigelassen wie elf Demonstranten, die nach der Kundgebung in der Nacht zum Dienstag in der Schwandorfer Innenstadt festgenommen worden waren, weil sie nach Angaben der Polizei zusammen mit etwa 140 Gleichgesinnten die Scheiben von zwei Banken eingeworfen und ein Polizeifahrzeug durch Steinwürfe beschädigt hatten.

Der Innenminister rechtfertigte die Räumung der Zeltlager am Dienstag erneut mit dem Hinweis auf die dabei gemachten Funde: sogenannte Krähenfüße, Stahlkugeln und Schleudern sowie Gegenstände, die sich zur Herstellung von Molotowcocktails eignen. Ein Sprecher des „Anti-WAA-Büros“, der Koordinierungsstelle für die Großkundgebung, widersprach der Darstellung Hillermeiers jedoch. Die Polizei habe lediglich Äxte, Sägen und Spiritus für Campingkocher gefunden, Gegenstände also, auf die beim Zelten nun mal nicht verzichtet werden könne. Der Polizei warf der Sprecher Provokation vor. Sie habe mit diesen Aktionen „friedliche Demonstranten verunsichern und einschüchtern“ wollen.

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