Tiere:Die Schnepfingerin lebt

Tiere: Die totgeglaubte Schnepfingerin ist ohne Sender im Königsauer Moos unterwegs. Sie hat ihren Sender wohl auf dem Rückflug verloren.

Die totgeglaubte Schnepfingerin ist ohne Sender im Königsauer Moos unterwegs. Sie hat ihren Sender wohl auf dem Rückflug verloren.

(Foto: LBV)

Vor zwei Jahren waren sich die Forscher vom Landesbund für Vogelschutz sicher: Das Brachvogel-Weibchen ist tot - in den Vorpyrenäen abgeschossen. Aber nun ist das Tier wieder im Königsauer Moos aufgetaucht. Eine Auferstehungsgeschichte.

Von Christian Sebald

Seit drei Jahren läuft beim Landesbund für Vogelschutz (LBV) ein aufwendiges Forschungsprojekt über den Großen Brachvogel. In all der Zeit haben der LBV-Chef-Biologe Andreas von Lindeiner und seine Mitarbeiter viel über die Schnepfenvögel mit dem graubraun gefleckten Gefieder und dem langen, kräftigen, gebogenen Schnabel gelernt. Nun aber ist ihnen etwas passiert, das sie nie für möglich gehalten hätten.

Sie haben einen Forschungsvogel quicklebendig wiederentdeckt, von dem sie überzeugt waren, dass er von einem Wilderer abgeschossen worden ist. Das Beste ist: Das Tier ist Schnepfingerin, das Brachvogel-Weibchen, das die Süddeutsche Zeitung von Juli 2018 bis Mitte August 2019 begleitet hat.

Der Große Brachvogel (Numenius arquata) zählt zu den seltensten Arten in Bayern. Auf der Roten Liste wird er seit Jahren als akut vom Aussterben bedroht geführt. Beim LBV schätzen sie, dass es bayernweit nur noch etwa 450 Brutpaare gibt. Dabei war die Art einst weit verbreitet. Ihre Lebensräume sind Moore und Wiesenlandschaften an großen und kleinen Flüssen.

Im Freistaat sind viele davon in den vergangenen Jahrhunderten verloren gegangen. Dies ist der zentrale Grund, warum es immer weniger Brachvögel gibt. Mit seinem Forschungsprojekt will der LBV in Erfahrung bringen, wie man der Art wieder auf die Beine helfen kann. Dazu schnallen die LBV-Experten Brachvögeln GPS-Sender auf den Rücken, mit deren Hilfe sie eine Unmenge an Daten über die Lebensweise der Tiere sammeln.

"Wir haben es erst nicht fassen können", sagt der LBV-Mann Lindeiner am Telefon, und man meint, seiner Stimme immer noch ein wenig Irritation anzuhören. "Aber es ist so, Schnepfingerin lebt, wir haben sie an ihrem Ring am rechten Bein eindeutig identifiziert." Dabei war sich Lindeiner sicher, dass Schnepfingerin tot ist.

Die letzten Daten, die ihr GPS-Sender im März 2020 an die Computer in der LBV-Zentrale im mittelfränkischen Hilpoltstein übermittelt hat, ließen aus damaliger Sicht nur diesen Schluss zu. Vor kurzem ist Schnepfingerin aber angetroffen worden, wie sie putzmunter in ihrem Revier im Königsauer Moos (Landkreis Dingolfing-Landau) herumspaziert ist.

Tiere: Joachim Aschenbrenner hat den Brachvogel entdeckt.

Joachim Aschenbrenner hat den Brachvogel entdeckt.

(Foto: Privat)

Es war der Donnerstag, 19. März 2020. Schnepfingerin, die seit Frühsommer 2018 Teil des Forschungsprojekts war, war auf dem Heimflug von ihrem Überwinterungsgebiet im südspanischen Nationalpark Coto de Doñana ins Königsauer Moos. Eben passierte sie Estopiñán del Castillo. Das ist ein Ort in den spanischen Vorpyrenäen, 150 Kilometer nordwestlich von Barcelona. Die Landschaft ist einsam, waldreich und zerklüftet. Da muss ein Schuss geknallt und Schnepfingerin mitten im Flug getötet haben. So sagte es Lindeiner seinerzeit.

Warum war sich Lindeiner so sicher, dass das Brachvogel-Weibchen abgeschossen worden war? "Bis Donnerstagfrüh waren die Daten von Schnepfingerin ganz normal", erklärte der Biologe, der viel Forschungserfahrung hat, damals. "Sie war ziemlich genau auf der Rückflugroute von 2019 unterwegs." Dann war plötzlich alles ganz anders.

Laut GPS-Sender ist der Vogel abrupt nach Süden abgebogen, ungefähr 17 Kilometer Luftlinie zu einem Bauernhof geflogen und hat sich dann von dort keinen Millimeter mehr wegbewegt. "Das macht kein Brachvogel, der auf dem Flug in seine Heimat ist", sagte Lindeiner. "Der will nur zurück." Außerdem gab es noch ein Indiz für Schnepfingerins plötzlichen Tod: Der Sender, der auch ihre Körpertemperatur aufzeichnete, zeigte nur noch 14 Grad an.

Der Mann, der entdeckt hat, dass Schnepfingerin lebt, ist Joachim Aschenbrenner. Der 66-jährige Informatiker im Ruhestand ist Vorsitzender des LBV im Kreis Dingolfing-Landau und ein sehr erfahrener Vogelkundler. Im März und im April ist Aschenbrenner im Königsauer Moos unterwegs, wann immer es geht. "Das ist die spannendste Jahreszeit für einen Vogelkundler", sagt er.

Die Region ist ein Vogelschutzgebiet von internationalem Rang. Dort leben nicht nur Brachvögel, sondern Schwärme von Kiebitzen, Grauammern, Braunkehlchen und viele andere teils sehr seltene Brutvogelarten. Aschenbrenner ist am liebsten morgens im Königsauer Moos, wenn sich die Kiebitzschwärme von ihren Nachtlagern in die Lüfte erheben.

Vor kurzem ist Aschenbrenner im Königsauer Moos ein beringter Großer Brachvogel aufgefallen. "Ich bin immer auf beringte Brachvögel aus", berichtet er, "seit vor zehn Jahren einmal eine ganze Reihe von ihnen Ringe bekommen hat." Aschenbrenner sucht regelmäßig das Königsauer Moos ab, ob er einen von diesen Brachvögeln antrifft. Durch sein Spektiv kann er die Kennung auf den Ringen ablesen und sogar fotografieren. So auch bei dem Brachvogel, den er an diesem Tag entdeckt hat.

Identifizieren konnte er ihn allerdings nicht, die Kennung war ihm fremd. Also schickte Aschenbrenner ein Foto in die LBV-Zentrale mit der Frage, ob ihm jemand weiterhelfen kann. Lindeiner und seine Leute wollten ihren Augen nicht trauen. Aber es gab keinen Zweifel. Auf dem Ring stand das Kürzel OA37 - die Kennung von Schnepfingerin. Das Brachvogel-Weibchen ist unversehrt und sehr vital.

Stellt sich die Frage, wie Schnepfingerin ihr Sender abhanden gekommen ist. Lindeiner geht davon aus, dass sie ihn verloren hat. "Das kann zwar eigentlich nicht passieren, die Geräte sind so konstruiert und befestigt, dass sie extrem gut sitzen", sagt Lindeiner und man merkt, dass er mit seinen Aussagen ein wenig vorsichtiger geworden ist. "Aber die einzig plausible Hypothese ist, dass der Sender von Schnepfingerin abgefallen ist, entweder im Flug oder bei einer Rast beim Gefiederputzen."

So ein GPS-Sender für Große Brachvögel ist samt dem Solarmodul, das ihn mit Energie versorgt, wenige Quadratzentimeter klein und 17 Gramm leicht. Den Tieren, die bis zu einem Kilo schwer werden, machen die Geräte nichts aus. Sie werden ihnen wie ein Rucksack auf den Rücken geschnallt. Das Gurtsystem dafür besteht aus weichem, aber sehr stabilem Teflonband, "eben damit sich der Vogel frei bewegen und sich der Sender dennoch nicht lösen kann", wie Lindeiner sagt.

Der Biologe hat schon etliche Telemetrie-Projekte mitgemacht, bei denen Vögeln Sender umgeschnallt worden sind. Aber er kann sich nicht erinnern, dass jemals einem ein Gerät einfach abgefallen wäre. Bei Schnepfingerin muss es aber passiert sein. Als Ursache vermutet Lindeiner den Verschleiß der Teflonbänder.

Völlig rätselhaft ist indes, wie der GPS-Sender von dem Ort, an dem ihn Schnepfingerin verloren hat, zu dem 17 Kilometer entfernten Bauernhof gelangt ist - und zwar in recht kurzer Zeit. "Dazu müssten wir den Sender haben und die Leute auf dem Bauernhof befragen können", sagt Lindeiner. Das ist nicht gelungen.

Als Lindeiner vor einem Jahr davon ausgegangen ist, dass Schnepfingerin abgeschossen worden ist, hat er zwar die spanische Naturschutz-Wacht alarmiert. Denn Große Brachvögel sind auch in Spanien streng geschützt. Ihr Abschuss ist eine Straftat. Aber wegen der Corona-Pandemie ist der Fall nicht weiterverfolgt worden.

Deshalb bleiben nur Spekulationen. "Es könnte sein, dass ein Landarbeiter oder Wanderer den Sender gefunden hat, kurz nachdem er vom Himmel gefallen ist", sagt Lindeiner, "und ihn dann wenig später an dem Bauernhof in ein Gebüsch geworfen hat, weil er gemerkt hat, dass er nichts damit anfangen kann." Eine andere Vermutung lautet, dass sich eine Elster das kleine Gerät geschnappt haben könnte, weil das Solarmodul bisweilen im Sonnenlicht glitzert.

Wie auch immer, beim LBV ist die Freude groß, dass sich Schnepfingerin wohlbehalten im Königsauer Moos aufhält. Dort beginnt dieser Tage die Balzzeit der Großen Brachvögel. Schnepfingerin und Co. brauchen deshalb viel Ruhe und Rücksicht. Lindeiner appelliert an die Ausflügler und Spaziergänger in der Region, auf den Feldwegen zu bleiben, nur ausgewiesene Vogel-Beobachtungsplätze zu nutzen und vor allem ihre Hunde an die Leine zu nehmen, damit diese keine Vögel aufscheuchen können.

Vor dem Forschungsprojekt des LBV wird Schnepfingerin in Zukunft ihre Ruhe haben. Aktuell hat der LBV dafür sechs Große Brachvögel am Sender. Dieses Jahr sollen elf weitere mit GPS-Geräten ausgestattet werden. "Schnepfingerin wird aber definitiv keines mehr bekommen", sagt Lindeiner. "Sie hat wahrlich genug geleistet für unser Forschungsprojekt."

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