Das Moor jedenfalls nimmt sich Zeit. Einen Millimeter pro Jahr wächst so ein Hochmoor, und so hat es Tausende Jahre gedauert, bis eine Torfschicht von dieser Mächtigkeit entstanden ist. Weg war der Torf dann sehr viel schneller. Schon vor mehr als 200 Jahren wurde er hier von Hand gestochen, um die kargen Stuben zu heizen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann der Abbau im industriellem Maßstab, zunächst als Brennstoff und seit den wachstumsfrohen Fünfzigerjahren vor allem für Blumenerde.
Erst 2005 standen auch hier die Fräsen still, 2006 dann das ganze Werk, vier Jahre vor dem Ende der Konzession. Importieren war billiger, und Moore zu renaturieren stand da schon länger als Beitrag gegen die Klimakrise hoch im Kurs. Seither wird hier aufgestaut statt entwässert. Ein paar Millimeter wird das Moor da und dort wohl wieder gewachsen sein - zu langsam, um ihm dabei zuzuschauen. Und doch sollte Zeit mitbringen, wer in die Nicklheimer Filze kommt.
Im Moor staut sich seit 2006 wieder das Wasser.
In nassen Senken gedeiht die Drachenwurz.
Im alten Handstich zeigt sich die Dicke der Torfschicht.
Norbert Schmid, Rudi Patsch und der gesamte Verein "D'Fuizler" pflegen nicht nur die alte Nicklheimer Bockerlbahn (von links),...
...sondern auch etliche Erinnerungsstücke an das mühsame Torfstechen in Handarbeit...
...und an den Torfabbau im industriellen Maßstab. Fotos: Matthias Köpf
Denn was bis vor 15 Jahren wie eine schwarzbraune Tagebauwüste aussah, hat sich seither zum Lebensraum für zahllose, zum Teil sehr seltene Tier- und Pflanzenarten entwickelt. Wer zum Beispiel Aronstabgewächse nur in ihren tropischen Versionen als Zimmerpflanzen kennt, kann hier die heimische Drachenwurz finden. Wo sie wächst, braucht es einigermaßen wasserfeste Schuhe, aber diese und vielleicht ein bisschen Mückenspray vor dem Losgehen schaden sowieso nicht. Für Menschen, die genau wissen wollen, ob der Vogel da drüben ein Waldwasserläufer, ein Bruchwasserläufer oder ein Flussuferläufer ist, gibt es große Tafeln mit Bildern, doch dazu empfiehlt sich noch ein Fernglas.
Das hilft womöglich auch, das Schwarz-, das Braun-, das Blau- und das Rotkehlchen zu unterschieden. Die kommen alle vor, einzelne Wege durch die Filze sind nach ihnen benannt. Die "Filze" - gesprochen "Fuizn" oder je nach Gegend auch "der Fuiz" - steht im Bairischen für ein Hochmoor, und davon gibt es am nördlichen Alpenrand eine Menge, seit sich nach der letzten Eiszeit die Gletscher zurückgezogen haben. Die Nicklheimer Filze ist Teil der Rosenheimer Stammbeckenmoore zwischen Bad Aibling, Raubling und Bad Feilnbach. Sie lagen einst auf dem Grund des Rosenheimer Sees. Erst als der Inn vor 12 000 Jahren die Endmoränen des Gletschers bei Wasserburg durchbrach, lief der riesige See aus und hinterließ die feuchten Becken, in denen das Moor wachsen konnte. Bis heute sind die Rosenheimer Stammbeckenmoore eines der größten zusammenhängenden Moorgebiete in Süddeutschland. Zugleich ist die Nicklheimer Filze eines der größten Moorrenaturierungsgebiete weit und breit.
Die heutigen Wasserflächen, in denen sich so viele Vögel wohlfühlen, haben sich in den Vertiefungen der Torfstiche gebildet. Stellenweise verlanden auch sie mit der Zeit, doch auf den freieren Flächen stört der Wellenschlag das Wachstum der Torfmoose. Bei Windstille spiegeln sich nicht nur der Himmel und die Bäume im moordunklen Wasser. Auch viele Libellen, die hier in nahezu allen Größen herumschwirren, sind oft zuerst als Spiegelbild auf dem Wasser zu erkennen. Arten wie die Azurjungfer stechen mit ihrem schillernden Blau aber auch so heraus.
Eine Gruppe von Jugendlichen aus verschiedenen Ländern hat 2018 eine hölzerne Informationsstation zu all den Libellen gebaut, so wie andere Jugendgruppen zuvor den Vogelbeobachtungspunkt aufgemöbelt oder am Aussichtsturm mit dem schönen Blick übers Moor Richtung Berge mitgebaut haben. Das alles bildet zusammen mit dem "Grünen Klassenzimmer", das die Gemeinde Raubling 2010 für Schülergruppen gebaut hat, die "Moorstation Nicklheim". Ihr Leiter ist Harry Rosenberger, der im Raublinger Rathaus vor allem für die Gemeindekasse, zu einem kleineren Teil aber auch für die Nicklheimer Filze verantwortlich ist.
Es hat ihn auf mancher politischen Ebene einige Überzeugungsarbeit gekostet, doch irgendwann haben sich alle miteinander doch beworben, und im Februar wurden die Rosenheimer Stammbeckenmoore schließlich als 35. Gebiet in Deutschland mit dem Zertifikat der internationalen Ramsar-Konvention zum Schutz von Feuchtgebieten ausgezeichnet. Rosenberger freut sich über solchen Zuspruch. Noch mehr Moorwanderer, als es zuletzt an manchen Pandemie-Wochenenden waren, bräuchte er allerdings nicht unbedingt.
Wer sich an einem ganz normalen Wochentag Zeit für die Nicklheimer Filze nimmt, wird meistens mit moorromantischer Einsamkeit belohnt. Die Wege sind nicht weit, es herrscht also keine Eile, dafür oft umso größere Ruhe. Die wird an diesem Tag von einem lauten Dröhnen durchbrochen. Norbert Schmid und Rudi Patsch vom Torfkulturverein "D'Fuizler" haben den Lastenwaggon mit dem selbst zusammengeschraubten Mähwerk an die kleine Diesellok gehängt und schneiden die Trasse der alten Bockerlbahn frei. Rudi Patsch hat bis 2006 als Baggerführer im Torfabbau gearbeitet, jetzt im Ruhestand pflegt er die Erinnerung an dieses zentrale Stück Nicklheimer Ortsgeschichte.
Die Bahn brachte früher über ein weit verzweigtes Gleisnetz den Torf ins Werk. Ein Gleis und zwei Loks haben die Fuizler vor der Verschrottung gerettet, und nur zu gerne würden sie wieder Fahrgäste zur Moorstation bringen. Doch das Landratsamt hat die Strecke von einigen Jahren aus Sicherheitsgründen stillgelegt. Jahrelang hat eine kleine Hand voll Fuizler das Gleis ganz neu gelegt, jetzt ist alles abgenommen, die Prüfplakette an der Lok ist gerade mal vier Wochen alt. Sobald das mit der Versicherung und der Genehmigung geklärt ist, soll es endlich wieder losgehen. Möglichst schnell natürlich, aber auch für eine Fahrt mit der Bockerlbahn braucht es in der Nicklheimer Filze vor allem eins: Zeit.