NS-Geschichte in BayernDebatte um eine Gedenkstätte im ehemaligen KZ in Kaufering

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Im Lager Kaufering VII, südwestlich der Stadt Landsberg an der Erpftinger Straße gelegen, stehen auf einem Teil des ehemaligen Konzentrationslagers noch drei intakte Häftlingshütten mit Tonröhrengewölben.
Im Lager Kaufering VII, südwestlich der Stadt Landsberg an der Erpftinger Straße gelegen, stehen auf einem Teil des ehemaligen Konzentrationslagers noch drei intakte Häftlingshütten mit Tonröhrengewölben. (Foto: Erich C. Setzwein)

Die Geschichte der Konzentrationslager lässt sich nicht ohne ihre vielen Außenlager erzählen. In ihnen mussten die Häftlinge, zumeist Juden, Sklavenarbeit für die deutsche Rüstungsindustrie leisten – so wie in Landsberg/Kaufering.

Von Helmut Zeller

Das Dachauer KZ-Außenlager Kaufering I, Februar 1945. Der Junge ist 16 und wird, das weiß er, in ein paar Wochen tot sein. Die Deutschen werden auch ihn töten, einfach deshalb, weil er ein Jude ist. Wie seinen Bruder Chaim; drei Jahre ist das jetzt her, erschossen, als er im litauischen Kaunas einen Laib Brot für seine Familie ins Ghetto bringen wollte. Wie seinen Bruder Berale, sechs, und seine Mutter Chana, 39, die im Juli 1944 in Auschwitz-Birkenau vergast worden sind. Aber für den Jungen, Abba Nauchowicz heißt er, brauchen die Mörder keine Kugeln oder Zyklon B. Der Tod in Kaufering I hat einen anderen Namen: Moll. Auf der Baustelle des Münchner Unternehmens Moll, etwa neun Kilometer vom Lager entfernt, errichten die KZ-Häftlinge in Sklavenarbeit einen riesigen Bunker für die Produktion von Jagdflugzeugen.

Der 16-Jährige schleppt täglich zwölf Stunden lang 50 Kilogramm schwere Zementsäcke auf der Schulter, im Laufschritt, mit nichts anderem als einer schwarzen Brühe, genannt Suppe, als Frühstück im Bauch. Wer zögert, verschnauft, den Schritt auch nur einmal ein wenig verlangsamt, wird von den OT-Leuten oder SS-Wachen angeschrien, geprügelt oder gar erschossen. Auch die Hoffnung der anderen jüdischen KZ-Häftlinge auf ein Leben danach, an das sie sich in den engen, kalten, verlausten und stinkenden Erdhütten im Lager zu klammern versuchen, erstirbt im Gedanken an den unersättlichen Moll. Damals, im Winter 1945.

Die OT-Leute waren Judenhasser in Zivil, Angehörige der Organisation Todt, die die Bauleitung über die drei Bunkerbaustellen bei Landsberg/Kaufering ausübte. Seit Sommer 1944 waren zehn Außenlager des Konzentrationslagers Dachau – das geplante elfte, Lager V, wurde nicht mehr fertiggestellt – bei Landsberg am Lech entstanden. Mehr als 23 000, andere Quellen sprechen von 30 000 Juden aus den Ghettos und den Vernichtungslagern in Osteuropa, aus Warschau oder Auschwitz-Birkenau, wurden in diese Lager deportiert, Polen, Ungarn und vor allem Litauer. Das Naziregime hatte beschlossen, sie nicht sofort zu töten. Sie sollten durch Zwangsarbeit für die deutsche Rüstungsindustrie vernichtet werden.

In nur zehn Monaten bis zur Befreiung durch die US Army starben 6500 namentlich bekannte Häftlinge, deren Leichen in Massengräbern bei Kaufering und Landsberg am Lech verscharrt wurden. Nicht eingerechnet in diese Bilanz sind diejenigen, die als arbeitsunfähig in die Gaskammern von Auschwitz-Birkenau deportiert oder nach der Auflösung der Lager auf dem Todesmarsch an Hunger und Entkräftung starben oder erschossen wurden.

Am 27. April 1945 erreichen Einheiten der US-amerikanischen 103rd Infantry Division sowie der 10th und 12th Armored Division auf zwei verschiedenen Routen die Stadt Landsberg. Auf ihrem Vormarsch entdecken sie mehrere Lager des KZ-Außenlagerkomplexes Landsberg/Kaufering. Leutnant Albert H. Gaynes, geboren 1918 in New York City, schreibt einen Brief an seine Frau Debbie. Er muss ihn schreiben. Sofort. Weil er gerade das Lager IV gesehen hat und in einen Abgrund der Verzweiflung zu stürzen droht. „Debbie, heute habe ich die ganze, umfassende Bestialität dessen gesehen, was eines der schrecklichen Konzentrationslager der Nazis war. Ich habe den grässlichen Anblick selbst gesehen, mit eigenen Augen. Debbie, ich hoffe, dass Du niemals siehst, was ich bis ans Ende meiner Tage vor mir sehen werde …“

Gaynes sah tote Menschen in den Baracken, auf den Feldern und dem Erdboden. „Sie waren nackt. Wie waren sie gestorben? Sie waren verhungert und zu Tode gequält worden. Es waren Skelette mit Haut … Die Nazis hatten einige der Baracken in Brand gesteckt, und ich habe die verkohlten Leichen gesehen.“ Lager IV bei Hurlach, etwa zwölf Kilometer von Landsberg entfernt, war das Sterbelager, in das erkrankte und nicht mehr arbeitsfähige Häftlinge geschafft wurden, wo sie ohne Essen und medizinische Versorgung krepierten. Sie konnten nicht mehr nach Auschwitz-Birkenau deportiert werden, nachdem im Herbst 1944 die Gaskammern wegen der anrückenden Roten Armee gesprengt worden waren.

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Die Geschichte der Konzentrationslager, sagt der Historiker Jascha März von der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, kann ohne die Außenlager, mehr als 1150 von etwa 23 Stammlagern, nicht erzählt werden. Stutthof, Flossenbürg oder Dachau mit seinen 140 Außenlagern wurden in der letzten Phase des Krieges zu Drehscheiben für die Verteilung von Häftlingen, zumeist Juden, die Sklavenarbeit für die deutsche Rüstungsindustrie leisten mussten – unter anderem in Allach, Mühldorf oder Landsberg/Kaufering.

Für Aufklärung und pädagogische Arbeit sind diese Orte heute bedeutsam, weil an ihnen die Verbrechen sichtbar werden – vor der eigenen Haustür. Nur wollte in den Nachkriegsjahren kaum jemand hinschauen. Fast alle Kauferinger Lager sind bis auf wenige Spuren verschwunden. Auf dem Areal von Lager I erhebt sich ein Gewerbegebiet, Lager II liegt unter einer schön gepflegten Wiese und auf dem Boden von Lager III entstand eine Schrebergartenkolonie.

Nur eine Ausnahme gibt es: Kaufering VII, südwestlich der Stadt Landsberg an der Erpftinger Straße. Dort stehen auf einem Teil des ehemaligen Konzentrationslagers noch drei intakte Häftlingshütten mit Tonröhrengewölben. Fundamentreste weiterer 55 Erdhütten, Reste der ehemaligen Stacheldrahtumzäunung und andere Relikte – alles im Besitz der Europäischen Holocaustgedenkstätte Stiftung, die in den 1980er-Jahren gegründet worden ist. Allein der Verein hat – gegen viele Widerstände – diesen Ort gerettet und bewahrt ihn seit Jahrzehnten. Die Baudenkmäler gelten inzwischen als Bauwerke von nationaler Bedeutung; sie „prägen das kulturelle Erbe der Bundesrepublik Deutschland mit“. Zehn Gedenksteine, die von europäischen Staatsoberhäuptern im Gedenken an die deportierten und ermordeten Juden aus ihren Heimatländern gestiftet wurden, erinnern an die Opfer des Außenlagersystems. Der Verein möchte das Gelände dem Freistaat Bayern übereignen, allerdings unter bestimmten Auflagen.

Am 27. April 1945 erreichen Einheiten der US-amerikanischen 103rd Infantry Division sowie der 10th und 12th Armored Division auf zwei verschiedenen Routen die Stadt Landsberg. Diese Aufnahme der Erdbaracken entstand wenige Tage nach der Befreiung durch die US-Armee.
Am 27. April 1945 erreichen Einheiten der US-amerikanischen 103rd Infantry Division sowie der 10th und 12th Armored Division auf zwei verschiedenen Routen die Stadt Landsberg. Diese Aufnahme der Erdbaracken entstand wenige Tage nach der Befreiung durch die US-Armee. (Foto: Quelle: Wikimedia commons)

Darüber wird nun seit vielen Jahren schon gestritten. Der Vereinsvorsitzenden, der Landtagsabgeordneten Gabriele Triebel (Grüne) aus Kaufering, ist der Grund für die zögerliche, abweisende Haltung der bayerischen Staatsregierung auch nicht wirklich klar. Sie hat den US-amerikanischen Stararchitekten Daniel Libeskind gewonnen, der in Berlin das Jüdische Museum gebaut hat. In Kaufering VII soll er auf Wunsch des Vereins ein Dokumentationszentrum bauen – da kam es in den Verliesen des zuständigen Kultusministeriums fast zum Aufruhr. Zu teuer! Dabei würde Libeskind laut Triebel nur ein Honorar verlangen, wie es in Deutschland üblich ist.

Aber das müsse ausgeschrieben werden, hieß es dann. Ja, spotten manche, vielleicht will sich auch eine Firma Moll bewerben – wegen ihrer früheren Expertise aus dem Engagement im Landsberger Raum. Dann lief noch ein schreiendes Wort durch die stillen Säle der bayerischen Erinnerungskultur: Wolkenkratzer. Libeskind will einen Wolkenkratzer hochziehen, was nicht stimmt, aber direkt vor den Toren der glücklichen Stadt Landsberg am Lech, die einer Umfrage zufolge eine besonders hohe Lebensqualität bietet, wenn man mal von den Massengräbern ringsherum absieht.

Apropos Landsberg: Zwei Drittel des Geländes von Kaufering VII gehören der Stadt. Aber sie tut nichts. So ganz stimmt das nicht. Sie bastelt an einer Ausstellung im Stadtmuseum, über die Kauferinger Lager, das DP-Camp der Überlebenden in der Stadt – und ein Raum ist Abba Naor gewidmet, jenem 16-Jährigen aus Lager I, der doch überlebt hat. Als er 1947 nach Palästina ging, legte er seinen früheren Namen, Nauchowicz, ab. An ihm klebte, wie er heute mit 97 Jahren sagt, zu viel Blut und zu viel Tod. Wie an Landsberg, der Stadt der Hitlerjugend, die nach 1933 in Scharen zur Zelle Adolf Hitlers im Gefängnis pilgerte, in der er nach seinem missglückten Putsch am 9. November 1923 einsaß und an seinem Hass-Buch „Mein Kampf“ schrieb.

Die frühere israelische Generalkonsulin Sandra Simovich besuchte das Lager VII im Dezember 2019.  Sie sagte dem BR, dass man gerade in Zeiten von Rassismus und Antisemitismus mehr Aufmerksamkeit für den Ort schaffen müsse. Die Stätte dürfe nicht von Privatpersonen abhängen, die das Lager ehrenamtlich vor dem Verfall bewahren. Das sieht auch Triebel so. Kaufering VII muss eine würdige Gedenkstätte werden, mit einem Doku-Zentrum, einer Ausstellung und Personal, auch wenn die immerhin vom Freistaat finanzierte Machbarkeitsstudie „nur“ mit 10 000 Besuchern im Jahr rechnet. Die Historikerin Edith Raim, die als erste Wissenschaftlerin die Kauferinger Lager erforscht und darüber eine brillante Studie geschrieben hat, bringt es auf den Punkt: Kaufering VII ist der einzige teilweise erhaltene Schauplatz der Shoah in Bayern. Aber vielleicht liegt es gerade daran, dass sich der Freistaat so schwertut mit diesem Ort – direkt vor der eigenen Haustür.

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