Geschichte in BayernDer einsame Riese vom Tegernsee

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Der krankhaft deformierte Schädel des Riesen vom Tegernsee neben einem normal entwickelten menschlichen Schädel.
Der krankhaft deformierte Schädel des Riesen vom Tegernsee neben einem normal entwickelten menschlichen Schädel. (Foto: Archiv Nerlich)

Mit seinen 2,35 Meter gilt Thomas Hasler als der größte nachweisbare Bayer. Über das Leben und Leiden des Bauernsohnes Ende des 19. Jahrhunderts hat der Pathologe Andreas Nerlich ein Buch geschrieben.

Von Matthias Köpf, Gmund am Tegernsee

Die Stuben der Bauernhäuser sind niedrig, gerade für einen wie ihn. Am Tegernsee ist das zu dieser Zeit nicht anders als anderswo auf dem Land, in den Bauerndörfern und auf den verstreuten Höfen wie dem Grundnerhof zwischen Gmund und Wiessee. Der Grundnerhof ist keines von den ganz kleinen Anwesen, aber wirtschaftlich ist es zuletzt bergab gegangen. Die Schulden drücken, die Hypotheken werden immer mehr, obwohl die Alm schon verkauft ist. Sein Vater, der Grundnerbauer, stirbt an Leberkrebs genau an dem Tag, an dem er selbst 14 Jahre alt wird.

Der Sohn, Thomas Hasler, ist der Zweitälteste von sieben Geschwistern. In die Schule geht er da seit drei Jahren nicht mehr. Bereits als Elfjähriger soll er zu groß für die Schulbank gewesen sein. Als Zwölfjähriger hat er dann schon sechs bayerische Fuß gemessen, 1,75 Meter. So geht es aus einem Autopsiebericht hervor, den der Leiter des Instituts für Pathologie an der Münchner Universität, Ludwig von Buhl, 1878 verfassen wird, zwei Jahre nach dem Tod des mutmaßlich größten Bayern, der je gelebt hat. Dieser am Ende seines Lebens 2,35 Meter große Thomas Hasler, so endet Buhls Bericht, „wurde 25 Jahre alt“.

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Wäre der „Riese vom Tegernsee“ noch älter geworden, so wäre er wohl noch weiter gewachsen, sagt Andreas Nerlich. Denn die Wachstumsfugen in den Knochen waren immer noch offen. Nerlich ist ein später Kollege des Ludwig von Buhl, ebenfalls Professor an der Münchner LMU. Er war bis vor zwei Jahren Leiter der Pathologie in Schwabing und Bogenhausen und hat den steinzeitlichen Gletschermann Ötzi ebenso untersucht wie altägyptische Priestermumien. Der Riese vom Tegernsee hat Nerlich durch sein gesamtes Berufsleben begleitet.

Als er noch ein junger Assistent am Pathologischen Institut gewesen sei, sagt Nerlich, da sei der „Riese“ einmal pro Semester in den Hörsaal gerollt worden zur Ausbildung der angehenden Mediziner. Als Beispiel dafür, wie groß Menschen werden können. Jetzt in seinem „Teilzeit-Ruhestand“, wie Nerlich das selbst nennt, hat er ein Buch über Thomas Hasler geschrieben. „Der größte Bayer – und seine Familie. Leben und Leiden von Thomas Hasler, dem ‚Riesen vom Tegernsee‘“ (August Dreesbach Verlag, 160 Seiten, 28 Euro) ist schon seine dritte Publikation dazu.

Die erste war 1991 ein englischsprachiger Aufsatz in der Fachzeitschrift Lancet über den „Tegernsee giant“, dessen juvenilen Gigantismus und seine fibröse Dysplasie – eine angeborene Knochenerkrankung, die bei Hasler zu Wucherungen am Schädel geführt und sein Gesicht entstellt hat. Nerlich hat diese Dysplasie und den wegen eines Tumors an Haslers Hirnanhangdrüse hormonell bedingten Riesenwuchs zunächst als zwei zufällig zusammentreffende Phänomene angesehen. Doch nach der Publikation habe sich bei ihm eine Arbeitsgruppe aus den USA gemeldet und darauf hingewiesen, dass beide Krankheiten auf eine Mutation am selben Gen zurückzuführen sein könnten.

Von Grundnerhof war es nicht weit hinunter ans Ufer des Tegernsees, wo es an einzelnen Stellen heute noch genau so aussieht, wie es damals ausgesehen haben mag.
Von Grundnerhof war es nicht weit hinunter ans Ufer des Tegernsees, wo es an einzelnen Stellen heute noch genau so aussieht, wie es damals ausgesehen haben mag. (Foto: Lennart Preiss/dpa)

Von Methoden, wie sie heutigen Pathologen und Genetikern zur Verfügung stehen, wusste Ludwig von Buhl noch nichts. Der hat den Riesenwuchs und den „bis zum Monströsen“ verdickten Schädel auf den Schlag eines Pferdehufs zurückgeführt, der Thomas Hasler als Neunjährigen getroffen haben soll. Aber immerhin hat Buhl den Riesen einmal zu dessen Lebzeiten gesehen – bei einer „Patientenvorstellung“, zu der Hasler um 1870 herum nach München geschickt worden sein muss, um den Medizinern dort als lebendes Anschauungsobjekt zu dienen. So wie er es später noch so oft als Toter getan hat.

Wieder daheim soll er erzählt haben, wie ungut das alles war und wie sehr er sich geschämt hat, „ganz nackert“ vor diesen Leuten in ihren weißen Kitteln, die ihn alle angeschaut und angelangt hätten. So hat es Thomas Haslers 13 Jahre jüngerer Bruder Martin später seinen Enkeln erzählt. Nerlich ist über viele Jahre hinweg den Spuren des Riesen und dessen Vorfahren und Verwandten gefolgt. Zusammen mit dem Ortschronisten und Heimatkundler Benno Eisenburg aus Gmund hat er Kirchenmatrikel ausgewertet, Katastereinträge studiert und mit heutigen Nachfahren der Haslers gesprochen.

Die Geschichten über den Riesen sind zum größten Teil von Martin Hasler überliefert worden und handeln von wahren „Trümmern“ von Händen und von Kraft für drei oder vier. Demnach soll der Thomas einmal einen Ochsen ausgespannt und von der Tennenauffahrt geworfen haben, weil der den Wagen nicht habe hinaufziehen können. Statt des Ochsen habe der Thomas den Wagen mitsamt dem Fuder Heu selber hinaufgezogen, so wie er ein anderes Mal ein eingesunkenes Fuhrwerk mit Baumstämmen aufgehoben haben soll. Beim Kegeln habe es Wetten gegeben, wie viele Kegel er mit der Kugel zu Kleinholz schießen werde.

Den Pathologen Andreas Nerlich hat der Riese vom Tegernsee sein gesamtes Berufsleben über begleitet.
Den Pathologen Andreas Nerlich hat der Riese vom Tegernsee sein gesamtes Berufsleben über begleitet. (Foto: Jakob Wetzel)

Vom Kegeln aber soll der anfangs recht gesellige Thomas dann ausgeschlossen worden sein, und je mehr sein Antlitz sich veränderte, desto mehr haben sich seine Familie und er selbst wohl dafür geschämt. Daheim lebte er bald allein in der Tenne, wo die Decke viel höher war als im Wohnhaus. Der Stiefvater, den die verwitwete Mutter bald notgedrungen geheiratet hatte, erwies sich mindestens als Hallodri. Den Hof brachte er endgültig durch, und auch für die Kinder hatte er nichts übrig. Sie mussten den Hof verlassen und gingen alle ihrer unterschiedlichen Wege.

Wie Thomas, der Riese, dann zur Berufsbezeichnung „Tagelöhner“ und ins Haus des Garnschneiders Quirin Hagn nach Gmund gekommen ist, ist unbekannt. Dort jedenfalls hat er offenbar seine letzten Lebensjahre verbracht und dort ist er am 29. Juni 1876 anscheinend recht plötzlich gestorben. Schon Buhl und mit ihm später Nerlich nehmen an, dass womöglich ein banaler Infekt das Gehirn des Riesen leicht anschwellen ließ. Doch dafür war in seinem von Knochenmasse zugewucherten Schädel schlicht kein Platz mehr.

Thomas Hasler war am Ende seines Lebens 2,35 Meter groß, ein durchschnittlicher Erwachsener in Altbayern maß in jener Zeit nur 1,62 Meter.
Thomas Hasler war am Ende seines Lebens 2,35 Meter groß, ein durchschnittlicher Erwachsener in Altbayern maß in jener Zeit nur 1,62 Meter. (Foto: Archiv Nerlich)

Nerlich schließt aus seinen Untersuchungen des Schädels, dass die immer noch jungen, aber zugleich schon letzten Jahre des Thomas Hasler keine schönen gewesen sein können. So sei der Riese vom Tegernsee auf dem linken Auge blind gewesen, auf dem rechten Ohr taub und auf dem anderen mindestens schwerhörig. Seinen Geruchssinn muss Thomas Hasler ganz verloren haben, dazu seien wohl Probleme beim Sprechen und mit der Mimik gekommen. Dass seine Leiche nach München gelangte, war offenbar schon vor seinem Tod vereinbart. Der Leichnam war nach dem Weg vom Tegernsee im heißen Juni dann aber schon „in weit fortgeschrittener Fäulnis“, wie Buhl notierte – zu weit fortgeschritten, um noch Fotos zu machen. Die Knochen wurden präpariert, der Rest am Alten Südfriedhof bestattet. Das Grab gibt es schon lange nicht mehr.

Vom Tod des Riesen nahm damals niemand Notiz, so wie zuvor sein Leben kaum größere Beachtung gefunden hatte. Womöglich war wenigstens das ein Glück, denn zu jener Zeit war es durchaus üblich, Menschen wie ihn auf Volksfesten zur Schau zu stellen. In Thomas Haslers Umfeld hat es wohl schlicht niemanden gegeben, der diese Art der Vermarktung in die Hand genommen hätte. Entsprechend existieren von ihm weder Fotografien noch Zeichnungen oder andere Abbildungen. Auch Nerlich muss sich für sein neues Buch mit Abbildungen von Verwandten, Ärzten und Häusern behelfen – und von einer plastischen Rekonstruktion des möglichen Gesichts von Thomas Hasler anhand seines Schädels.

So haben Fachleute die Gesichtszüge des Riesen anhand des Schädelknochens rekonstruiert.
So haben Fachleute die Gesichtszüge des Riesen anhand des Schädelknochens rekonstruiert. (Foto: Archiv Nerlich)

Öffentlich ausgestellt wurde der Riese vom Tegernsee dann doch noch. Erstmals war sein Knochengerüst 1997 im Medizinhistorischen Museum in Ingolstadt zu sehen, dann 2013 eine Saison im Museum Tegernseer Tal. Als eine Art Begleittext dazu ist Nerlichs zweite Veröffentlichung zu dem Thema entstanden,  „Der Riese vom Tegernsee – Leben und Krankheit des größten Bayern“.  Anfang des kommenden Jahres könnte es eine Sonderausstellung im Jagerhaus in Gmund geben. Der größte nachweisbare Bayer wird Thomas Hasler, der einsame Riese vom Tegernsee, wohl bleiben. Denn inzwischen würde so ein Tumor an der Drüse frühzeitig behandelt und das Wachstum hormonell gestoppt.

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