Süddeutsche Zeitung

Gesetzesänderung:Solzialgerichte können Klageflut nicht bewältigen

  • Die Verjährungsfrist für Klagen von Krankenkassen gegen Kliniken wurde im vergangenen Jahr verkürzt.
  • Um der drohenden Verjährung zu entgehen, haben die Krankenkassen im vergangenen Jahr extrem viele Klagen eingereicht.
  • Die Sozialgerichte in Bayern kommen mit der Bearbeitung kaum hinterher.

Von Stephan Handel

Die Lage ist dramatisch, und Besserung ist nicht in Sicht: Nach der Klagewelle vom November des vergangenen Jahres klagen die bayerischen Sozialgerichte nicht nur über die Arbeitsbelastung - die Präsidenten der Gerichte haben nach einer Tagung vergangene Woche in Würzburg ein Schreiben veröffentlicht, das mit "Hilferuf" überschrieben ist. "Zur Bewältigung dieser noch nie dagewesenen Klageflut reicht das Engagement der Gerichtsangehörigen nicht mehr aus", heißt es darin.

Das Dilemma entstand im November 2018: Damals trat eine Regelung des neuen Pflegepersonal-Stärkungsgesetzes in Kraft, die die Verjährungsfrist für Klagen von Krankenkassen gegen Kliniken von vier auf zwei Jahre verkürzte. Die Folge: Die Kassen reichten zum Stichtag 9. November alle Klagen ein, die ansonsten eventuell verjährt wären. Die Flut traf alle deutschen Sozialgerichte, bundesweit wird die Zahl der Fälle auf mehr als eine Million geschätzt.

Die sechs bayerischen Sozialgerichte trafen - zunächst - 14 000 Klagen. Das ist mehr als ein Viertel der 40 000 Klagen, die sie für gewöhnlich pro Jahr bearbeiten. Schlimmer noch: Eine einzelne Klage beinhaltet meistens eine Vielzahl von Fällen, weil die Kassen sie offenbar aus Zeitnot summarisch eingereicht hatten.

Das Sozialgericht Bayreuth meldet nun, dass bislang nur ein "unbedeutender Teil" der Klagen erledigt werden konnte. Mehr als 1800 Verfahren sind anhängig, darunter mindestens eine "Millionen Klage", die noch nicht in die einzelnen Fälle getrennt wurde. Das Sozialgericht München berichtet von einem Zuwachs der Eingänge um 68 Prozent - auch deswegen, weil zuständigkeitshalber Verfahren anderer Gerichte nach München verwiesen werden. Das Sozialgericht Nürnberg rechnet "keinesfalls" mit einer gütlichen Erledigung der 500 aufgelaufenen Verfahren: "Es bedarf dringend der alsbaldigen Zuweisung von Planstellen."

Das Sozialgericht Würzburg schätzt, dass sich die Zahl der eingegangenen 245 Verfahren "mindestens verdreifachen" wird, wenn die einzelnen Fälle getrennt sind: "Eine erhebliche Zahl muss streitig entschieden werden, laut Schätzung mindestens 500." Regensburg berichtet von noch rund 500 anhängigen Verfahren, die zum Großteil streitig, also per Gerichtsurteil entschieden werden müssen. Und auch bei gütlichen Einigungen müsse das Gericht für jeden einzelnen Fall Kosten und Streitwerte festsetzen, "eine hohe Belastung sowohl für das nichtrichterliche Personal als auch für die Richterschaft". Und das Sozialgericht Landshut konnte von 1277 eingegangenen Klagen viele an andere Gerichte verweisen oder anders erledigen, dennoch sind noch 228 Verfahren offen.

In ihrem "Hilferuf" weisen die Präsidenten der Gerichte, angeführt von Günther Kolbe, dem Präsidenten des Bayerischen Landessozialgerichts (LSG), darauf hin, wie sehr die gigantische Zahl von Klagen die Bediensteten belastet: Eine Sozialgerichts-Kammer erledigt im Jahr normalerweise etwa 300 Verfahren - nun sind aber mindestens 30 000 anhängig, vom anderen, normalen Eingang ganz zu schweigen. Zudem fordern die Präsidenten die Einführung eines obligatorischen Schlichtungsverfahrens als Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Klage - hierbei ist aber fraglich, ob ein solches Verfahren schnell eingeführt werden könnte, und ob es für schon anhängige Verfahren gelten könnte.

Die Richter weisen auch auf Auswirkungen des Klagestaus auf die Kliniken hin: Viele sind jetzt schon in prekären finanziellen Verhältnissen. Wenn sie wegen der Klagen und eventuell anfallender Forderungen der Kassen Rückstellungen bilden müssen, könnte das viele Krankenhäuser in große wirtschaftliche Bedrängnis bringen.

Zwei Mal hat LSG-Präsident Kolbe schon an die zuständige Sozialministerin Kerstin Schreyer geschrieben und die Notlage geschildert - mit nicht so großem Erfolg: Im Doppelhaushalt 2019/20 sind keine zusätzlichen Richterstellen vorgesehen. Immerhin werden jeweils sieben Stellen von Richtern und nichtrichterlichem Personal für weitere zwei Jahre aufrechterhalten; sie waren im Zuge der "Asylkrise" zusätzlich bewilligt worden und sollten eigentlich im August 2019 wegfallen.

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SZ vom 16.07.2019/vewo
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