Wer die Balance der Kräfte messen will, braucht an diesem Mittwoch nur eine Stoppuhr. Es ist 12.49 Uhr, als Ministerpräsident Markus Söder und CSU-Fraktionschef Thomas Kreuzer nebeneinander an ihre Rednerpulte treten. Kreuzer spricht keine dreieinhalb Minuten. Söders Rede dauert 17 Minuten, dann dürfen die Journalisten ihre Fragen stellen. Nur zu Beginn widmet sich Söder der Fraktion, er dankt Kreuzer, "ohne dich könnte ich, könnte die Staatsregierung nicht arbeiten". Aber dann ist es wie immer: Die Bühne gehört Söder, der wieder einmal eine Klausur der CSU-Landtagsfraktion kapert, um sich vor allem selbst in Szene zu setzen. Und die Fraktion? Überlässt ihm die Bühne.
Es sei "sehr wahrscheinlich", dass die Schuldenbremse auch im kommenden Jahr ausgesetzt bleibe. Statt eines Doppelhaushaltes werde man vorerst nur Einjahreshaushalte aufstellen, sagt Söder. Und er kündigt an, eine Expertenkommission zum Thema Wasserversorgung einzusetzen. "Wasser wird in Bayern eine echte Herausforderung", im Süden gebe es Hochwasser, im Norden gebe es zu wenig Wasser, "Franken beginnt zu verdursten".
Auf Nachfrage sagt Söder dann noch, dass sich der Bau einer dritten Startbahn am Münchner Flughafen für ihn erledigt hat. Es gab Zeiten, da hätte die CSU-Fraktion protestiert, die Startbahn gehörte mal zu ihren Lieblingsprojekten. Als Horst Seehofer noch Ministerpräsident war, hatte er sich jahrelang bemüht, den Bürgerprotest gegen den Bau zu befrieden. Dann sagte Startbahn-Fan Kreuzer zu Journalisten, der Protest werde sich schon erledigen, wenn erst die Bagger rollen. Und jetzt? Steht Kreuzer neben Söder und nickt ab.
Über die Landtagsfraktion, die selbster-nannte Herzkammer der CSU, heißt es ja schon länger, dass ihr Rhythmus mit jedem Tag mehr von Söder bestimmt werde. Wer der Fraktion bei dieser Herbstklausur den Puls fühlt, tut sich allerdings schwer, überhaupt noch einen selbständigen Rhythmus zu spüren. Man muss nur durch die Papiere blättern, die seit Montag in der Klausur behandelt wurden: zur Wirtschaft, zu Gesundheit, zur Schule. Dass die Wirtschaft relativ gut dastehe, "verdanken wir dem schnellen und entschlossenen Handeln der Staatsregierung", steht da etwa. Und dass es mit den "umsichtigen Maßnahmen" der Staatsregierung zu tun habe, dass das Gesundheitssystem stabil blieb. Viel Lob also für Söder und sein Kabinett. Neue Ideen der CSU-Fraktion? Findet man praktisch nicht in den Resolutionen, die verabschiedet wurden. Wasser? Startbahn? Davon steht nichts drin. Die Themen setzt Söder sogar bei der Klausur der eigenen Fraktion ganz alleine.
Es gebe schon "ein großes Gefälle" zwi-schen der Fraktion und dem Ministerprä-sidenten, gibt einer der CSU-Parlamentarier zu. "Ein Problem" sei das, sagt ein anderer. Ein dritter CSU-Mann spricht zwar davon, dass es bei manchen Abgeordneten "ein Grummeln" gebe, weil die Fraktion neben Söder kaum noch stattfinde. Doch laut formuliert das niemand, keiner möchte den geschrumpften Einfluss noch zusätzlich kleinreden. Wenn doch einer offen spricht, begründet er den Einflussverlust mit der Pandemie. Die fordere nun mal schnelle Entscheidungen, da könne man nicht jedes Mal zuerst "einen Landtag zusammenkommen lassen", sagt etwa Kreuzer, der wie Söder betont, dass die Fraktion bei den Entscheidungen der Staatsregierung stets eingebunden sei.
Man muss wissen: Das Infektionsschutzgesetz erlaubt Söder und der Staatsregierung, mit Rechtsverordnungen zu regieren, ohne das Parlament zu beteiligen. Das bremst nicht nur die Opposition aus, sondern auch die CSU-Fraktion. Doch während sich die Opposition nach kurzer Schockstarre zu Beginn der Pandemie längst wieder fleißig an der Debatte beteiligt, Ideen und Anträge formuliert, setzen die Parlamentarier der CSU praktisch keine eigenen Akzente. Und während die Opposition sich laufend beschwert, dass sie von den Entscheidungen der Staatsregierung nur noch aus Söders Pressekonferenzen erfährt, schluckt die Fraktion das einfach runter.
Selbst hinter den verschlossenen Türen des Plenarsaals hält Söder an diesem Mittwoch eine Grundsatzrede, die sich kaum von den Pressekonferenzen unterscheidet, die er in aller Öffentlichkeit hält. So schildern das jedenfalls mehrere Mitglieder der Fraktion. Söder warnt, dass Corona nicht vorbei sei, verteidigt seinen Kurs und seine Teststrategie. "Viel erklären, viel einordnen, Ausblick geben", sagt Söder über den Inhalt seiner Rede vor der Fraktion. Eine Debatte? Habe es nicht gegeben, berichten die Abgeordneten hinterher.
Nun ist bekannt, dass die CSU wie keine andere Partei versteht, sich hinter ihrem Anführer zu stellen, wenn sie sich erst mal auf einen festgelegt hat. Das war bei Strauß so, bei Stoiber und Seehofer. So lange jedenfalls, wie ihr Anführer Erfolg hat. Und Erfolg hat Söder, und damit die CSU, das sagen alle Umfragen. Keiner in der Fraktion kann ein Interesse daran haben, Söder zu beschädigen, sie wollen ja wiedergewählt werden. Und trotzdem: Es ist bemerkenswert, wie bereitwillig die Fraktion in Kauf nimmt, selbst zu schrumpfen, damit Söder weiter wachsen kann.
Nur bei einem Thema blitzten kurz Meinungsverschiedenheiten auf: als Söder sich am Dienstag hinter die Entscheidung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) stellte, 1500 Migranten aus Griechenland aufzunehmen. Während Söder von der "Pflicht zu helfen" sprach, warnte Kreuzer davor, "ein Signal" zu setzen, das EU-Staaten so verstehen könnten, dass Deutschland "das Problem allein" löse. Auch andere CSU-Abgeordnete sehen beim Thema Migration ein Konfliktpotenzial. Bislang ist von Konflikt aber nichts zu spüren. Keine einzige Wortmeldung soll es gegeben haben, als Söder vor der Fraktion sprach. Nur Applaus.