Süddeutsche Zeitung

Schule:Nächste Stunde, Islamkunde

Der Islamunterricht soll vom Modellversuch zum regulären Schulfach werden, doch die Vorbereitungen ziehen sich. Im Hintergrund gibt es offenbar politische Verwerfungen. Bei den Lehrern herrscht unterdessen Unsicherheit.

Von Anna Günther

Die Entscheidung sollte Formsache sein, das Warten kein Nervenkitzel. Die Mehrheit der Landtagsfraktionen ist vom Modellversuch "Islamischer Unterricht" überzeugt. Dass dieser umgewandelt wird in ein richtiges Wahlpflichtfach wie Ethik, hatte Kultusminister Michael Piazolo (FW) frisch im Amt vorangetrieben. Das Kabinett hatte den bedarfsgerechten Ausbau im März 2019 abgesegnet. Aber Lehrer, Eltern und Schüler wurden wieder vertröstet: Der Modellversuch blieb zwei weitere Jahre Provisorium, im zehnten Jahr, nach mehreren Verlängerungen. Im Sommer 2021 soll nun wirklich ein reguläres Schulfach in Bayern eingeführt werden. Aber seit dem Beschluss vor eineinhalb Jahren ist es still geworden. Und jetzt drängt wieder die Zeit.

Zwar tut sich einiges im Hintergrund, die Lehrpläne sind fertig, die Verbände sollen bis Mitte Dezember Stellung nehmen. Der Fokus des neuen Fachs soll auf interkultureller Bildung sowie Islamkunde liegen und kein Religionsunterricht im Sinne des Grundgesetzes sein. Anders als bei den christlichen Kirchen gibt es in Deutschland keinen einheitlichen Ansprechpartner der Muslime. Die Kirchen haben Einfluss auf den Religionsunterricht, für den bayerischen Islamunterricht erstellten Wissenschaftler und Pädagogen mit dem Ministerium die Lehrpläne. Die Aufsicht über Lehrerausbildung und Unterricht hat der Staat.

Trotzdem bezweifeln viele, dass das Gesetz vor der Winterpause den Landtag passiert. Ein Grund sollen zahllose Abstimmungsschleifen sein und Bedenken in den Regierungsfraktionen. Von Neiddebatten ist die Rede, der Name des Faches sei strittig, manche wollen "Islam" nicht im Titel haben. Werden nicht bald Fakten geschaffen, wird es eng mit einem regulären Fach im Sommer, der Vorlauf ist lang. Schulleiter müssen Informationsabende veranstalten und bis März verbindliche Anmeldungen melden, das ist in Corona-Zeiten kompliziert. Gruppen müssen gebildet und Lehrer umverteilt oder eingestellt werden. Wegen der anhaltenden Ungewissheit wandern aber bereits Lehrer ab. Andere Bundesländer werben offensiv mit unbefristeten Stellen.

Die Stille und das Zaudern irritieren viele, der bayerische Modellversuch gilt unter Experten als Erfolg, den Studien mehrmals bestätigten. Und in Deutschland wird nicht zuletzt seit dem mutmaßlich islamistisch motivierten Mord an einem Lehrer vor sechs Wochen nahe Paris wieder breit diskutiert, was Schulen islamistischem Gedankengut entgegenhalten können. Islamunterricht von staatlich ausgebildeten Lehrern mit staatlichem Lehrplan ist für viele Experten der richtige Weg. Der Umgang mit dem Islam habe in Bildungseinrichtungen zentrale Bedeutung, sagt auch Ludwig Spaenle (CSU), der Antisemitismusbeauftragte der Staatsregierung. Gesellschaft und Schulen müssten mit "dem Phänomen radikalisierter muslimischer Menschen umgehen. Eine Antwort ist der Islamische Unterricht."

In Spaenles Zeit als Kultusminister entstand 2009 aus einer Erlanger Initiative der bayernweite Modellversuch. Spaenle betonte oft, dass Bayern damit anderen Ländern einiges voraushabe. Er setzt sich noch immer für den Ausbau des Faches ein - und geht nun sogar weiter: Zusätzlich zur Islamlehrerausbildung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) könnte er sich vorstellen, dort auch eine "öffentlich-verantwortete" Imam-Ausbildung einzurichten. So wie es etwa in Osnabrück der Fall ist.

Für die große Mehrheit der muslimischen Schüler in Bayern bedeutet Islamunterricht Wertschätzung, Zugehörigkeit zur Schulfamilie und Gleichberechtigung, wenn sie den Islam mit ihren Lehrern besprechen, während Mitschüler im katholischen, evangelischen oder jüdischen Religionsunterricht sitzen. Gefühle, die nicht zu unterschätzen sind: Wer sich zugehörig fühlt, sucht das nicht anderswo. Gut 160 000 muslimische Schüler gibt es in Bayern. 100 Lehrer unterrichten derzeit 17 000 Mädchen und Buben an 364 Schulen im Islamunterricht, die meisten lernen an Grund- und Mittelschulen.

Am Modellversuch sind nur vier Realschulen und drei Gymnasien beteiligt. Schüler lernen im Islamunterricht mehr über ihren Glauben, hören verschiedene Auslegungen des Korans, erfahren Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den anderen Weltreligionen. Und, für die Nürnberger Gymnasiallehrerin Sevda Kamaci am wichtigsten, sie lernen Etabliertes zu hinterfragen und über ihre Religion zu diskutieren. "Bevor die Schüler Inhalte lernen, lernen sie Fragen zu stellen, sich zu artikulieren und Meinungen auszuhalten", sagt Kamaci. Kritisches Denken sei in Religion und Ethik sehr wichtig. "Wenn die Kinder Fragen haben, die sie nirgends stellen können, die sie daheim nicht zu stellen trauen, besprechen wir das im Islamunterricht", sagt auch Mehmet Yalçin. Seit 18 Jahren bringt er Muslimen an bayerischen Schulen ihren Glauben näher. Wie groß der Bedarf ist, zeigt sein Pensum: Yalçin unterrichtet an sieben Grund- und Mittelschulen in der Oberpfalz, fährt pro Woche 600 Kilometer. Kein Einzelfall.

Yalçin ist bei Schulleitern, Kindern und Eltern beliebt, aber verunsichert. Er hat einen befristeten Vertrag und erzählt von Kollegen, die wegen der Ungewissheit aufgegeben haben. "Der Modellversuch ist in unseren Händen gewachsen, das zu verlassen, wäre schade. Aber wenn nichts anderes übrig bleibt, muss man halt gehen." Aus der Erlanger Uni ist zu hören, dass gute Absolventen abwandern. Derzeit studieren 34 Pädagogen Islamischen Unterricht. Wie Yalçin warten sie auf das Signal. "Wenn jetzt nicht endlich der Modellversuch aus ist und ein Wahlpflichtfach daraus wird, dann bricht uns der Lehrkörper weg und die Dynamik. Und dann? Den Modellversuch noch einmal zu verlängern, wäre lächerlich", sagt Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands. Das Ministerium versucht derweil, zu beruhigen. Der Ausbau erfolge "nach und nach", und damit Corona die Weiterbildung der Islamlehrer nicht verhindert, arbeite man an einer "Teil-Digitalisierung" der Dillinger Fortbildungen.

Hinweis: In einer früheren Version stand, dass ein "mutmaßlich islamistischer Schüler" den Lehrer ermordet haben soll. Das ist nicht richtig. Beschuldigter ist ein 18-Jähriger ohne direkten Bezug zu dieser Schule.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5132388
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 01.12.2020/van/syn
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.