Süddeutsche Zeitung

Bildung:Wie "Nachhilfeen" Brücken bauen

Viele Schüler müssen in den Sommerferien verpasstes Wissen nachholen. Das Konzept des Kultusministeriums geht vielerorts nicht auf - doch im Nürnberger Land sind Menschen kreativ geworden.

Von Viktoria Spinrad, Lauf an der Pegnitz/München

Hell leuchtet das Foto des Palasts im Klassenzimmer. Blau, gelb, rot, ein Farbenmeer auf schwarzem Untergrund. Zu welcher Tageszeit das Foto wohl aufgenommen wurde? Casian, dunkler Wuschelkopf, zuppelt an seinem T-Shirt. "I guess this picture was taken at 16 or 17 am", sagt der 13-Jährige dann. Kein schlechter Satzbau für einen Siebtklässler. Aber um 16 oder 17 Uhr morgens? Nachhilfelehrer Johannes Bürger wiegt den Kopf. "Da müssen wir noch mal überlegen", sagt er und dreht sich mitsamt Stift zur Tafel.

Eine Nachhilfestunde an der Kunigunden-Mittelschule in Lauf an der Pegnitz, Mittelfranken. Der drittletzte Tag vor den Sommerferien. Student Johannes Bürger, weißes T-Shirt, Kreuzkette, übt Bildbeschreibung auf Englisch mit seinem Schützling. Es geht um Begriffe wie "vorne", um Adjektive wie "hell", um Meinungsäußerungen wie "ich glaube". Zugleich geht es aber um eine viel größere Frage: nämlich die, wie nach anderthalb Jahre Ausnahmezustand an den Schulen mit den Lernlücken der Schüler umzugehen ist.

Seine Antwort darauf hat das Kultusministerium in Form eines elfseitigen Konzepts Mitte Mai an die bayerischen Schulen geschickt. Das Stichwort lautet "Gemeinsam Brücken bauen". Dahinter stecken 210 Millionen Euro für ein zweijähriges Konzept aus Tutorenprogrammen, Sozialkompetenzförderung und Freizeitangeboten - und einem Sommerschulprogramm an den Schulen.

Das Projekt war kaum angekündigt, da hagelte es bereits Kritik von Verbänden. "Showpolitik", "unausgereift", "unzumutbar", so die Trommelschläge der Verbände. Nun gibt es kaum etwas aus dem Kultusministerium, das draußen unter den Lehrern und Eltern nicht die Emotionen auflodern lässt. Aber gerade das Thema Sommerschule ließ viele ratlos zurück. Überforderte und überlastete Schüler wenige Tage nach dem ersehnten Abgang durch das Schultor wieder zurück in die Klassenzimmer beordern?

In Lauf an der Pegnitz schüttelt Michael Kirstein den Kopf. "Das wäre schwierig geworden. Viele Schüler sind durch", sagt der Schulleiter der Mittelschule. Macht nichts: Im Nürnberger Land gibt es für Schüler wie Casian längst kostenlose Nachhilfe. "Nachhilfeen" wie Johannes Bürger bauen eigene Brücken. Das Projekt ist eine Geschichte darüber, wie die Privatwirtschaft für den Staat einsprang. Gestartet hat diese der Unternehmer Alexander Wexler. Im Frühjahr sah der Geschäftsführer eines lokalen Automobilzulieferers eine der vielen Polit-Talkshows mit Corona-Schwerpunkt. Wie so oft ging es um Sorgen im Zusammenhang mit der Pandemie. Wexler dachte: Wieso immer nur die Risiken, nicht die Chancen?

Am Tag danach war er immer noch so aufgebracht, dass er überlegte, was er machen könnte. Gestalten statt zerreden, das war seine Idee. Er sah seine Tochter im Unterricht daheim, kam auf die Kinder, die in den Mühlen des Homeschoolings hängenzubleiben drohten. Und wählte die Nummer des Landrats.

Fünf Telefonate später stand das grobe Konzept. Studenten, ehemalige Lehrer und andere Freiwillige sollten zu "Nachhilfeen" werden. Örtliche Zeitungen schalteten kostenlos Anzeigen, die Caritas stellte sich als Träger zur Verfügung. Nach Ostern ging es los - mit Spenden von Privatleuten und Firmen wie dem Getränkemarkt. Mehr als 100 000 Euro kamen bisher zusammen, mittlerweile unterrichten 83 Nachhilfelehrer an den größten Grund- und Mittelschulen des Landkreises, um die Lücken der Schüler zu stopfen.

Im Fall von Casian sind das die Kernfächer Deutsch, Mathe und Englisch. Was nicht zuletzt daran liegt, dass ihn seine Eltern kaum unterstützen können. Sie kommen aus Rumänien und sprechen nur wenig Deutsch. Casian war sechs, als er nach Deutschland kam. Am Anfang lief es gut für ihn, er lernte schnell die Sprache und ging gleich in die zweite Klasse. Doch mit dem Homeschooling tat er sich schwer. Geschichten zusammenfassen, Minuszahlen multiplizieren, dazu das schlechte Internet daheim: Casian kam ins Straucheln. Johannes Bürger kannte ihn noch von seinem Freiwilligenjahr an der Schule vor seinem Lehramtsstudium. Er half ihm, jeden Dienstag von 15.45 bis 17.15 Uhr. "Casian ist viel selbstbewusster geworden", sagt er. "Ohne ihn hätte ich das alles nicht hinbekommen", sagt Casian.

Wer im Klassenzimmer stehen will, muss 23 Seiten Dokumente ausfüllen

Es sind Menschen wie er, um die sich Lehrer und Bildungsforscher besonders Sorgen machen: Schüler aus bildungsfernen Familien, die den Sommer in ihrem Heimatland verbringen und sich so nicht in eine Sommerschule locken lassen. "Diejenigen, die es bräuchten, sind nicht da", konstatiert Walter Baier vom Verband der Gymnasialdirektoren. Andere sind vielleicht zuhause, aber ausgelaugt. Das beobachtet auch Moritz Meusel vom Landesschülerrat. "Viele, die es vielleicht nötig hätten, wollen jetzt eine Pause", sagt er.

Viele Schulleiter taten sich in den letzten Wochen zudem schwer, Nachhilfelehrer für den Sommer zu finden. Das Kultusministerium hat ein Vermittlungsportal aufgesetzt, 2600 Interessenten haben sich angemeldet. Doch wer später im Klassenzimmer stehen will, muss 23 Seiten Dokumente ausfüllen, Verfassungstreue, Masernschutz, erweitertes Führungszeugnis - für einen Ferienjob. So will es der Schutzauftrag des Kultusministeriums. Mancherorts lassen die Schulen deswegen gleich die eigenen Lehrer einspringen - oder sparen sich die Sommerschule ganz.

In Lauf fährt man nun zweigleisig und bietet in der letzten Woche der Ferien eine Sommerschule an. Um langfristig keine doppelten Strukturen aufbauen zu müssen, soll das örtliche Projekt im neuen Schuljahr mit dem des Freistaats verzahnt werden. Und Casian? Er will nach dem Sommer in Rumänien erst einmal schauen, wie er zurechtkommt. Sollte es schwierig werden, "dann mache ich weiter", sagt er. Ein Anruf genügt: Bürgers Nummer hat er längst im Handy gespeichert.

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SZ vom 02.08.2021/wean
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