Da stimmt etwas ganz und gar nicht, „das passt nicht“ – das war Mario Hagenreiner, Wachtmeister am Landgericht Augsburg, an dem Tag schnell klar. Da war diese Dame durch die Tür des Justizpalasts gekommen, aufgelöst und aufgeregt, das Mobiltelefon noch in der Hand, „mit bibbernder Stimme“ – 14 000 Euro hatte sie dabei. Ihr Mann sei ja Beschuldigter in einen Verkehrsunfall, erzählte sie, sie sei von der Justiz angewiesen worden, sofort zur Bank zu fahren, diese Summe abzuheben, mit niemandem darüber zu sprechen – und das Geld dann am Gerichtsgebäude zu übergeben. Sie war also auf der Suche nach dem Empfänger. Hagenreiner und seine Kollegen zogen die Polizei hinzu und es stellte sich heraus, was schon zu ahnen war: Die Frau saß einer üblen Betrugsmasche auf. Und zwar unter Missbrauch der Justiz.
Kriminelle erfinden immer neue Methoden, um ihren Opfern die Ersparnisse abzunehmen. Betrüger nutzten auch „schamlos Namen, Adressen und Symbole der Justiz“, sogar „die Autorität der Gerichtsgebäude“, sagt Justizminister Georg Eisenreich (CSU). Nicht nur den einen Fall der besagten Frau, sondern bereits fünf haben sie in Augsburg in den vergangenen Jahren registriert. Die Übergabe des Geldes klappte, so weit bekannt, glücklicherweise nie. Das sollte ja nicht im Gebäude selbst, sondern in der Umgebung geschehen. Letztmals im April, wieder die Unfall-Kaution-Geschichte, ein Mann in Sorge um seine Ehefrau.
Eine „ungewöhnliche Häufung“ in Augsburg sieht Eisenreich, überall in Bayern könnten aber solche Betrugsversuche stattfinden. Er lud am Montag die Presse in den Justizpalast – um über diese Masche zu informieren und den Wachtmeistern zu danken, die bisher so wachsam waren und es seitdem noch mehr sind.
Die Täter gehen immer skrupelloser vor, berichtete Eisenreich: falsche Anklagen, Kautionen und Bescheide, sogar die Drohung mit Fake-Haftbefehlen wegen angeblicher Kinderpornografie-Straftaten. Dass die Justiz dabei – ähnlich wie beim Phänomen von „falschen Polizisten“ – als Aufhänger verwendet wird, ärgert Eisenreich besonders. Im Namen seines Ministeriums, von Gerichten und von Staatsanwaltschaften seien solche Schreiben und Mails schon versandt worden – stets mit dem Zweck, Angst und Verunsicherung zu erzeugen. Und natürlich mit einer Zahlungsaufforderung.
Der „Spielball“, erklärte der Augsburger Landgerichtspräsident Franz Gürtler, sei dabei das „Vertrauen“ gegenüber der Justiz. Viele Leute dächten, wenn etwas vom Gericht komme, dann müsse es schon seine Richtigkeit haben. Das örtliche Personal sei geschult worden nach den Fällen, erklärten Gürtler und Dieter Grossmann, Leiter der Wachtmeister. Es gebe auch Patrouillen um den Justizpalast, um ansprechbar zu sein und Personen selbst anzusprechen – etwa wenn jemand auf der Suche nach etwas wirke, nach einem betrügerischen Geldempfänger. Eisenreich kündigte eine Sensibilisierung bayernweit an Gerichtsstandorten an.
Das grassierende Auftreten von Schockanrufen, angeblichen Enkelkindern in Notsituationen oder auch Maschen mit vermeintlich amouröser Komponente (sogenanntes Love Scamming) – Betrüger erfinden ständig neue Szenarien. Im Sommer hatten Eisenreich und Innenminister Joachim Herrmann (CSU) auch vor einer neuen Masche gewarnt, bei der sich Kriminelle als Prominente ausgeben. Die vermeintlichen Internetprofile von Personen des öffentlichen Lebens dienen dabei als Lockvögel – es wird, wie in nahezu sämtlichen Fällen dieser Art, versucht, sich das Vertrauen von Menschen zu erschleichen und schließlich den Wunsch nach einer näheren Beziehung oder eine Notsituation vorzutäuschen. Am Ende steht immer ein Ziel: Geld zu erlangen.
Schockanrufe haben 2023 einen Schaden von 26,3 Millionen Euro angerichtet
Beim im Sommer im Münchner Justizpalast vorgestellten Fall wurde die Identität des Schauspielers Igor Jeftić, der einen der Kommissare in der ZDF-Serie „Rosenheim Cops“ darstellt, für dieses perfide Spiel missbraucht. Im Landkreis Weilheim-Schongau nahmen Kriminelle einer älteren Frau damit insgesamt 35 000 Euro ab. Eisenreich erklärte damals: „Die Folgen für die Opfer sind erheblich. Abgesehen von dem materiellen Verlust drohen Depressionen und Angstzustände.“
Laut dem Landeskriminalamt hat der gesamte Phänomenbereich – allen voran die Schockanrufe – 2023 bayernweit einen Schaden von 26,3 Millionen Euro angerichtet. Das Dunkelfeld dürfte noch höher sein, manche Opfer zeigen die Fälle womöglich nicht an; aus Scham, darauf hereingefallen zu sein. Der Täter ist oft schwer habhaft zu werden. Hintergrund ist, dass die Callcenter für den Betrug oft im Ausland sitzen und die Kriminellen arbeitsteilig und höchst strukturiert in Banden vorgehen. Daher spielt diese Art von Betrug auch eine Rolle für groß angelegte Verfahren gegen die organisierte Kriminalität. In den Augsburger Fällen des Justiz-Schwindels konnten ebenfalls keine Täter ermittelt werden – aber zumindest das Geld gerettet werden.
Eisenreich wies am Montag darauf hin, dass die Methoden der Täter immer professioneller werden, auch über künstliche Intelligenz. Mithilfe technisch imitierter Stimmen könne man etwa den Enkeltrick „perfektionieren“. Der Minister rief zur Wachsamkeit auf, inzwischen gibt es zahlreiche Aufklärungskampagnen. Konkrete Ratschläge des Justizministers: sich in dem „Schockmoment“ unbedingt mit seinem Umfeld wie Familie, Bekannten oder Nachbarn zu besprechen; und bei jeglichen Geldforderungen hellhörig zu werden. In besagten Fällen: Wenn die angebliche Justiz Bargeld verlange oder gar Schmuck und andere Wertsachen, „kann man zu 100 Prozent Sicherheit von Betrug ausgehen“. Bei verdächtigen Schreiben gelte es Briefkopf und Bankverbindung genau zu prüfen, Empfänger bei rechtmäßigen Zahlungen in Bayern sei stets die Landesjustizkasse. Bei jedem Zweifel solle man bei der Polizei nachfragen – und zwar der richtigen.