Historische Schmähinserate:Wolllustraupensammler, Generalgrobian!

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"Hate Speech" ist keine Social-Media-Erfindung - früher fand sie in Zeitungsanzeigen statt. (Foto: Jakob Berr)

Den Shitstorm gab es schon lange vor Twitter und Facebook: Vor 200 Jahren nutzten die Bayern Kleinanzeigen, um übereinander herzuziehen. Ein Philologe hat nun gut 300 Schmähinserate untersucht - und stieß auf äußerst kreative Beleidigungen.

Von Hans Kratzer, München

Wer einen Drang nach schlechter Laune verspürt, sollte sich auf Plattformen wie Facebook und Twitter begeben. Dort herrscht Dauererregung, viele Teilnehmer zerreißen sich derart das Maul, dass man als Beobachter an der Kultiviertheit der Menschheit zu zweifeln beginnt. Aber solche Abgründe hat es auch früher gegeben. Nur verfügten die Vorfahren noch nicht über die Segnungen des Internets, um quasi die ganze Welt an den Schimpfkanonaden teilhaben zu lassen.

So hart es auch klingt. Aber die Möglichkeit, andere Menschen zu schmähen und in ein schlechtes Licht zu rücken, wurde in Bayern durch die Lockerung der Pressefreiheit im Revolutionsjahr 1848 gefördert. Nachdem König Ludwig I. nach schweren Unruhen abgedankt hatte, kündigte sein Nachfolger Maximilian II. sogleich ein Gesetz zur Pressefreiheit an. Die Zensur war ja einer der Kritikpunkte der Revolutionäre. Sofort wurden zahlreiche Zeitungen gegründet, deren Kleinanzeigen zum beliebten Lesestoff wurden. Das lag nicht nur daran, dass "eingetretener Verhältnisse wegen" Sachen wie Daguerrotypie-Apparate oder ein reales Priechlerrecht (Konzession für einen Garnhändler) angeboten wurden. Oder dass für Produkte wie Leichdornmittel (gegen Hühneraugen) und zuckerne Seelenzöpfe geworben wurde.

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Die Bürgerschaft konnte in solchen Anzeigen nun auch Ehrverletzungen sowie Missstände öffentlich anprangern und dabei auch so manchen Rufmord riskieren. In den Kleinanzeigen entlud sich der nämliche Trieb, der jetzt die sozialen Medien vergiftet. Die Neuesten Nachrichten in München schilderten die Lage von 1848 so: "Es geschieht nichts, es schläft Alles, nur wenn einer dem Andern was anhängen kann, so thut er es in unseren Eintagsblättern mit Hülfe der himmlischen Preßfreiheit."

Diese Frühzeit der Schmähinserate hat nun der Philologe Helmut A. Seidl genauer unter die Lupe genommen. Im Jahr 1848 erschienen allein in den Neuesten Nachrichten 14 000 Inserate, die ungewöhnliche Einblicke in den Alltag jener Zeit ermöglichen. Oft hatten sie dramatische Folgen, wie die gut 300 Schmähinserate, die Seidl untersucht hat, belegen. Das erkannten auch die damaligen Leser. In einem Inserat moniert ein Kritiker: "Es ist bedauernswerth genug, daß man um 2 kr. die Zeile Jemanden öffentlich beschimpfen kann!"

Als ein krasser Fall sei hier die Anschuldigung gegen den Haager Benefiziaten Lorenz Dietmaier herausgegriffen. Ein namentlich genannter Inserent aus Augsburg gab in der Zeitung einen Skandal kund, der sich an Pfingsten 1862 zugetragen habe. Als dessen Hauptbeteiligte nannte er den genannten Benefiziaten und dessen Köchin. Sie hätten im biererhitzten Zustand wie borstige Thiere gegrunzt und seien auf offener Straße im Schlafgewand herumgetaumelt. Sein Fazit: "Eine solche Handlungsweise erregt eine traurige Wahrnehmung vom Pfaffenthum, indem derselbe nicht nur als Wollustraupensammler, sondern, wie ich höre, als Generalgrobian bezeichnet wird."

Mehrere Haager Bürger setzten ihrerseits zur Ehrenrettung des Geistlichen ein Inserat ins Blatt, in dem sie dem Ankläger erwidern, "dass man vom Hörensagen gewöhnlich mit Lügen tractiert wird". Dietmaier inserierte: "Anderer Fehler ohne Noth offenbaren, ist schändliche Ehrabschneidung, andern Fehler fälschlich nachsagen niederträchtige Verleumdung." Seidls denkwürdige Sammlung handelt von Wahrheitsverdrehern, Lustdirnen, Lüstlingen, moralischen Ungeheuern, Speichelleckern und Erzwüstlingen. Es geht um niederträchtige Verleumdung, natternzüngliche Sippschaft und um giftschwangere Charaktere. Es ist alles wie gehabt, nur die Technik der Verbreitung hat sich teuflisch geändert.

Helmut A. Seidl, Schwindelköpfe, Schwätzer und Schmarotzer. Schmähinserate im alten Bayern. BoD Norderstedt, 19,90 Euro.

© SZ vom 29.01.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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