Der Angeklagte selbst hat im Verlauf dieses Prozesses von „Schicksal“ gesprochen und von einer „Entscheidung Gottes“. Doch diejenigen, die jene Schleuserfahrt im vergangenen Oktober auf der A 94 bei Ampfing nur knapp und mit schweren Verletzungen überlebt haben, wollten von solchen Erklärungen wenig wissen. Auch der Unfallgutachter hat stattdessen lieber von nüchternen physikalischen Dingen wie der „Kurvengrenzgeschwindigkeit“ berichtet. Der Angeklagte sei „mit gut 20 km/h zu schnell da reingefahren“ in die Autobahnausfahrt Ampfing – mit fast 150 Stundenkilometern insgesamt, auf der Flucht vor der Polizei und mit 22 Fahrgästen in dem gemieteten neunsitzigen Van.
Nachdem der Mercedes sich dort überschlagen und zwei Türen verloren hatte, lagen sieben Tote am Rand der Autobahn, darunter ein sechsjähriges Mädchen. 15 weitere Menschen waren teils schwer verletzt, einer davon wird zeitlebens ein schwerster Pflegefall bleiben. Das Landgericht Traunstein wird sich nach fünf Prozesstagen nun ein Urteil bilden über diese Todesfahrt von Ampfing. Dabei wird die Kammer vor allem klären müssen, ob sie den Fahrer wegen Mordes verurteilen wird oder wegen Einschleusens mit Todesfolge.
Denn das, was in der Nacht von 12. auf den 13. Oktober 2023 geschehen ist, war vor Gericht von Anfang an nicht umstritten. Es ist fast alles gut dokumentiert, unter anderem durch Videoaufnahmen einer zivilen Streife der Bundespolizei, die den verdächtigen Van auf der A 94 anhalten wollte und das davonrasende Schleuserfahrzeug dann Richtung München verfolgte.
Auch das Handy des Mannes, der vor 25 Jahren in Damaskus geboren wurde, aber seither weder einen syrischen noch sonst irgendeinen Pass bekommen hat, hat sehr exakte Spuren hinterlassen entlang seiner Schleuserroute. Die führt von Traiskirchen südlich von Wien, wo es eine zentrale österreichische Erstaufnahme für Geflüchtete gibt, bis nach Feldkirchen bei München.
Mindestens viermal soll der Angeklagte nach Angaben der Staatsanwaltschaft als Schleuser auf dieser Route unterwegs gewesen sein. Drei der vier Fahrten hat er zugegeben: eine zu siebt in einem Kleinwagen, eine mit 20 Geflüchteten in einem Van und dann diese letzte Fahrt mit 22 Menschen aus der Türkei und aus Syrien, die ihr tödliches Ende auf der A 94 bei Ampfing genommen hat. Nur eine Fahrt mit mindestens 16 Menschen auf der Ladefläche eines Lieferwagens bestreitet der Mann, obwohl sich auch dafür auf seinem Mobiltelefon ein „Willkommensbild“ fand. Mit diesen Fotos dokumentieren Schleuser die Ankunft ihrer Fahrgäste am Ziel, um danach ihren Lohn zu erhalten – allein für diese eine, bestrittene Fahrt laut Anklage mindestens 6000 Euro.
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Ein Willkommensbild hat der Angeklagte nicht mehr machen können nach dem fürchterlichen Unfall bei Ampfing, bei dem er sich selbst einen Arm gebrochen und – als einziger Angeschnallter – Prellungen schräg über den Oberkörper zugezogen hat. Stattdessen hat er laut den Erkenntnissen der Kriminalpolizei nur Minuten nach dem Aufprall den Messengerdienst Whatsapp von seinem Mobiltelefon gelöscht. Die Ermittler sind trotzdem einem Teil seiner Handy-Kommunikation auf die Spur gekommen.
Das hat unter anderem dazu geführt, dass an diesem Mittwoch vor einer anderen Strafkammer in Traunstein der Prozess gegen drei Syrer beginnt, die von der Staatsanwaltschaft als Mitorganisatoren der tödlichen Schleusung angeklagt sind und dem dunklen Van in jener Nacht als sogenannte Scoutfahrer in einem anderen Auto vorausgefahren sein sollen, um die Route auszukundschaften. Am gewohnten Grenzübergang bei Simbach über den Inn sollen sie in jener Nacht eine Polizeikontrolle entdeckt und den Fahrer daher über die Salzachbrücke bei Burghausen dirigiert haben.
Für diesen Fahrer zählen nun jedoch vor allem die letzten Minuten und Sekunden vor dem Unfall. Denn der Staatsanwalt sieht in dem Versuch, mit hohem Tempo von der Autobahn abzufahren, „ein gezieltes Manöver, sich durch Flucht zu entziehen“ – also eine eigene Straftat zu verdecken, was juristisch als Merkmal eines Mordes gelten kann. Zugleich, so argumentiert der Staatsanwalt in seinem Plädoyer weiter, habe der Angeklagte zwar „sicher nicht mit dem direkten Vorsatz und dem Ziel gehandelt“, dass es dabei Verletzte oder Tote geben sollte.
Aber er habe alle flehentlichen Bitten und Stoßgebete seiner Passagiere ignoriert und einen Unfall billigend in Kauf genommen, was juristisch ebenfalls als Form des Vorsatzes gilt und aus der Tat einen Mord machen könnte. Für diesen Mord fordert der Staatsanwalt lebenslange Haft und will zudem die besondere Schwere der Schuld festgestellt wissen, was eine vorzeitige Entlassung aus dem Gefängnis praktisch ausschließen würde.
Dass sein Mandant eine sehr lange Zeit im Gefängnis wird verbringen müssen, das räumt auch der Verteidiger ein. Er fordert in seinem Plädoyer zwölf Jahre Haft, denn „es handelt sich hier um ein ganz schweres Verbrechen, da müssen wir nicht drüber diskutieren“. Der Verteidiger identifiziert dieses Verbrechen jedoch als Einschleusen mit Todesfolge, denn sein Mandant habe weder den Tod noch schlimme Verletzungen seiner Fahrgäste wirklich in Kauf genommen, sondern fahrlässig gehandelt. Es gehe hier um „einen Verkehrsunfall, einen ganz schweren und tragischen, aber einen Verkehrsunfall“.
Der Angeklagte selbst richtet seine letzten Worte nur leise an den Dolmetscher neben sich. Der übersetzt. „Eine größere Macht als meine Macht“ habe ihn da überwältigt, er habe nicht gewusst, was er tue. „Was passiert ist, ist sehr tragisch und sehr schlimm. Man kann das auch nicht entschuldigen, was passiert ist, aber ich wollte das zu keiner Zeit und auf keinen Fall.“ Das Gericht will sein Urteil am 5. November verkünden.