Süddeutsche Zeitung

Angriffe auf Schafe:Sind Hunde für Nutztiere gefährlicher als Wölfe?

Lesezeit: 3 min

Das behauptet jedenfalls der Schafhalter René Gomringer. Zahlen des Bayerischen Landesamtes für Umwelt stützen seine These. Über die verschobene Wahrnehmung von Tieren.

Von Christian Sebald, München

Zwischen der Furcht der Bauern, dass ihre Rinder, Schafe oder anderen Nutztiere auf den Weiden von Wölfen überfallen und getötet werden könnten, und den tatsächlichen Rissen besteht ein großes Missverhältnis. Das geht aus Daten des Bayerischen Landesamts für Umwelt (LfU) hervor, das für die Beobachtung der Wölfe in Bayern und der Begutachtung der Schäden durch sie zuständig ist.

Die Zahlen beziehen sich auf das Monitoringjahr 2021/2022. In dem Zeitraum sind dem LfU 99 Fälle von teilweise mehreren toten Nutztieren gemeldet worden, bei denen der Verdacht bestand, dass sie von einem Wolf getötet worden sind. Bestätigt hat sich der Verdacht in sieben Fällen. Zugleich machen die Zahlen klar, dass wildernde Hunde mindestens eine genauso große Gefahr für Nutztiere darstellen. Acht der 99 Verdachtsfälle gingen zweifelsfrei auf das Konto von Hunden. Ein Monitoringjahr geht von 1. Mai des einen Jahres bis 30. April des Folgejahres.

Experten wie René Gomringer sind von den Zahlen wenig überrascht. Der 69-jährige Agraringenieur und Schafhalter im Altmühltal war lange Jahre Geschäftsführer des Landesverbands Bayerischer Schafhalter und ist Experte in Sachen Herdenschutz. Nach seiner Überzeugung sind wildernde Hunde aktuell eine sehr viel größere Gefahr für Schafe als Wölfe. Auch wenn die Situation eine andere ist als noch vor 20 Jahren. "Da war es in der Regel so, dass Hunde nachts von ihren Haltern aus welchen Gründen auch immer ausgelassen worden und dann in Gruppen von zweien oder dreien in Schafherden eingedrungen sind", sagt Gomringer. "Heute dagegen sind jagende Hunde in der Regel in Begleitung, geraten allerdings außer Kontrolle ihrer Halter und hetzen dann Schafe oder andere Nutztiere."

Nach Gomringers Eindruck nimmt die Zahl der Übergriffe durch Hunde in letzter Zeit sogar zu - vor allem in Regionen, in denen Schafhaltung und Naherholung oder Tourismus aufeinander treffen wie bei ihm daheim im Altmühltal, in Mittelgebirgen wie der Rhön oder eben auf den Almen in Oberbayern und dem Allgäu. In jedem Fall, da ist sich Gomringer sicher, werden bayernweit aktuell mehr Schafe durch Hunde getötet als durch Wölfe.

In 61 der insgesamt 99 Wolf-Verdachtsfällen in 2021/2022 war es schon bei der Begutachtung der Kadaver unwahrscheinlich, ausgeschlossen oder nicht feststellbar, dass die Nutztiere Opfer eines oder mehrerer Wölfe geworden waren. Hierbei waren beispielsweise die Verletzungen untypisch für einen Wolf. Die Raubtiere töten ihre Beute in der Regel mit einem gezielten Biss in die Kehle und öffnen danach deren Bauchhöhle. Fehlt an einem gerissenen Tier der Kehlbiss oder ist seine Bauchhöhle geschlossen, ist es eher unwahrscheinlich, dass es von einem Wolf zur Strecke gebracht worden ist. Weist das Opfer mehrere, wenig tiefe Bissverletzungen an seinem Hinterteil und den Hinterläufen auf, ist das ein Hinweis, dass es gehetzt und dabei immer wieder nach ihm geschnappt worden ist. So ein Verhalten ist für jagende Hunde typisch. Die Wolfsexperten des LfU sprechen dabei von einem "unprofessionellen Zupacken".

"Ein Schutzzaun hilft nur wenig gegen Hunde"

In 38 Fällen war der Wolfsverdacht so stark, dass die Beutetiere genetisch untersucht wurden. Dabei wurde herausgefunden, dass außer Wölfen und Hunden auch Füchse (vier Fälle) und ein Goldschakal (ein Fall) Jagd auf Weidetiere machen. In weiteren fünf Fällen ergab sich, dass die Nutztiere bereits tot oder Totgeburten waren, als sich ebenfalls Hunde über sie hermachten und an ihnen fraßen. In den verbleibenden 13 Fällen war auch per Genanalyse nicht mehr nachweisbar, ob ein Wolf oder ein anderes Tier die Nutztiere getötet hatte.

Aus Gomringers Sicht bestätigen die Zahlen des LfU zwei wichtige Punkte. "So lange ein Wolf ausreichend Hirsche, Rehe oder andere Beutetiere hat, macht er in aller Regel keine Jagd auf Schafe", sagt der Experte, der auch für den Bund Naturschutz arbeitet. Als Beispiel führt Gomringer seine Heimatregion an. Im Altmühltal lebt seit inzwischen drei Jahren eine Wölfin - und zwar völlig unauffällig. Bislang hat sie jedenfalls noch kein Schaf angegriffen. Die Region gilt als wildreich.

Der andere Punkt: Schafe sind wildernden Hunden hilfloser ausgeliefert als Wölfen. "Denn ein Schutzzaun hilft nur wenig gegen Hunde", sagt Gomringer. "Wenn so ein Hund außer Kontrolle ist, überspringt er ihn einfach, so wie er das in der Hundeschule oder anderswo von seinem Halter gelernt hat." Bei Wölfen ist das anders. Sie springen von Natur aus nicht über Zäune. In der Regel versuchen Wölfe deshalb, unter einem Schutzzaun hindurchzukriechen. Wenn der entsprechend stabil ist, werden sie das nicht schaffen. In Deutschland haben nur einige wenige frei lebende Wölfe gelernt, über einen Zaun zu springen.

Bereits in der vergangenen Woche war bekannt geworden, dass auch die Schafrisse in diesem Sommer auf den Almen in den Bergen bei Garmisch-Partenkirchen nach bisherigem Stand nicht auf das Konto von einem oder mehreren Wölfen gehen, die in der Region vermutet werden. Sondern ebenfalls auf das wildernder Hunde. Allerdings werden aktuell noch zwei Genproben von Schafskadavern ausgewertet.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikel stand der Satz "Ein Wolf kann nicht springen." Das ist stark verkürzt. Richtig ist: Ein Wolf springt von Natur aus nicht über einen Zaun. Er muss das erst lernen. Es gibt in Deutschland einige, allerdings sehr wenige Wölfe, die gelernt haben, wie man über einen Zaun springt. Wir haben die Stelle entsprechend präzisiert.

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