Es war eine Freitagnacht im November 2022, als ein junger Mann mit seinem Freund händchenhaltend aus einer Diskothek in Dingolfing kam. Sie gingen Richtung Parkplatz, küssten sich kurz, irgendjemand sagte "schwule Sau", und dann kam der Schlag. Er zertrümmerte den Kiefer von Enrico W., nahm ihm einen Zahn und kurzzeitig das Bewusstsein. Noch in der gleichen Nacht musste der damals 21-Jährige operiert werden.
Herbert Lohmeyer war einer der Ersten, die ihn besuchten. Er ist Vorsitzender von "Queer in Niederbayern", einem Verein, der sich für die Rechte der Community einsetzt. Die Übergriffe würden immer mehr, sagt er: Beim Christopher-Street-Day (CSD) in Landshut sei einem Teilnehmenden die Fahne aus der Hand gerissen - und angezündet worden. Er hätte noch mehr solche Geschichten. Aber leider wenig offizielle Zahlen.
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Was belegbar ist: Menschen werden in Bayern überdurchschnittlich häufig Opfer von Straftaten wegen ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität. Während sich die sogenannte Hasskriminalität insgesamt im Freistaat zwischen 2010 und 2021 vervierfacht hat, registrierte die Polizei bei solchen Straftaten gegen queere Menschen im gleichen Zeitraum fast eine Versiebenfachung. Dies geht aus einer 168-seitigen Antwort der Staatsregierung auf eine Anfrage der Grünen hervor, mit der sich an diesem Dienstag der Landtag befassen wird. Es handelt sich um eine Interpellation, Titel: "Queer in Bayern - damals, heute und in Zukunft."
Und diese belegt auch abseits von Kriminalität, dass es bei Belangen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans*- und intergeschlechtlichen sowie anderen queeren Menschen (kurz LSBTIQ*) "massive Missstände und hohen Nachbesserungsbedarf" gibt. So zumindest deutet Florian Siekmann, Vize-Fraktionschef und queerpolitischer Sprecher der Grünen, die Auskünfte und Daten. Zentrale Ergebnisse liegen der SZ vor. Zunächst hatte die Deutsche Presseagentur am Montag darüber berichtet.
Die konkreten Straftaten sind demnach vor allem Volksverhetzung, Körperverletzung und Sachbeschädigung, vereinzelt etwa Raub, Bedrohung oder Nötigung. 88 Delikte wurden in Bayern zuletzt jährlich gezählt. Das Dunkelfeld dürfte immens sein, da zum Beispiel Beleidigungen im öffentlichen Raum oder im Netz oft nicht angezeigt werden. Bei der Versiebenfachung könnte aber doch der gesellschaftliche Wandel relevant sein - also dass das Thema LSBTIQ* in der Gesellschaft präsenter ist und wohl auch die Anzeigebereitschaft höher; zumindest mit Blick aufs Vergleichsjahr 2010, das queerpolitisch durchaus als andere Zeit betrachtet werden kann. Etwa die Ehe für alle war da noch lange nicht eingeführt. Zu den Tatverdächtigen gibt es keine Details. In Berlin hatte kürzlich das Monitoring eines Forschungsinstituts im Auftrag des Senats auch Debatten ausgelöst: Drei Viertel der ermittelten Tatverdächtigen, meist jung und männlich, waren zuvor schon polizeibekannt; nicht-deutsche Staatsangehörige waren überrepräsentiert.
Aus Sicht der Grünen braucht es bei der bayerischen Polizei Sensibilisierung in der Aus- und Fortbildung, damit queerfeindliche Straftaten besser erfasst werden. Denn unabhängige Anti-Gewalt-Anlaufstellen würden für Bayern noch viel mehr Delikte verzeichnen als die Statistik. Siekmann wünscht sich wie in anderen Ländern Ansprechpersonen für Opfer queerfeindlicher Gewalt in allen Polizeipräsidien - "um das Vertrauen der Community in die Polizei zu stärken und damit das Anzeigeverhalten zu verbessern".
Der Landeschef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Jürgen Köhnlein, sagt auf Anfrage dazu: "Es kann natürlich immer besser werden, aber wir sind auf einem guten Weg." Das Bewusstsein sei bei den Beamtinnen und Beamten heutzutage eindeutig vorhanden, bei Einsätzen oder Anzeigen "wird sofort entsprechend reagiert". Sachbearbeiter und Experten für Hasskriminalität arbeiteten auf allen Ebenen und jetzt habe man auch "einen zentralen Kopf" dafür - den neuen Beauftragten der Polizei gegen Hasskriminalität und Antisemitismus, der auch explizit die LSBTIQ*-Szene abdecke. Die Stelle im Landeskriminalamt soll zum Beispiel Ansprechpartner für Betroffenengruppen von Hass und Hetze sein oder die Fortbildung der Polizei weiter forcieren.
In Schulen fehlten Aufklärungsprojekte
Politik und Polizei seien eben nicht ausreichend für das Thema sensibilisiert, findet dagegen Herbert Lohmeyer aus Niederbayern. Und erzählt, wie es weiterging in Dingolfing. Enrico W. erstattete Anzeige und die Polizei kommentierte den Vorfall in der Presse damit, dass noch nicht sicher sei, ob es sich um eine "schwulenfeindliche Straftat" handele. "Was soll es denn sonst sein?", fragt Lohmeyer. Es sei eine queere Party gewesen, von der ein queeres Pärchen kam, das aus dem Nichts angegriffen wurde. Die Reaktion der Polizei aber passe für ihn zu Bayern. Staatsanwaltschaft und Polizei geben zu dem Fall keine Auskunft: laufende Ermittlungen.
Mit die größten Defizite in der Queer-Politik der Staatsregierung wähnt Siekmann bei der Beratung, gerade abseits der Ballungsräume - "ein einziges Trauerspiel". Seine Forderung: "Wir brauchen in jedem Regierungsbezirk mindestens eine leistungsstarke Beratungsstelle, die an der queeren Community angedockt ist." Dafür seien mindestens zwei Millionen Euro Förderung nötig, die jetzt bereit gestellten Mittel seien ein "Tropfen auf den heißen Stein". Es gebe auch zu wenige Angebote für LSBTIQ*-Personen mit gesundheitlichen Problemen. Diskriminierungserfahrungen könnten nachweislich Folgen für die physische und psychische Gesundheit haben. Staatliche Maßnahmen in dem Bereich gebe es abseits des Themas HIV aber praktisch nicht.
Zudem kritisiert der Grüne, dass in Schulen Aufklärungsprojekte fehlten. "Statistisch sitzt in jeder Klasse mindestens eine queere Person", und das Thema betreffe alle Lehrkräfte. Das Kultusministerium habe das Thema "nicht einmal richtig auf dem Schirm". Als einziges Bundesland habe Bayern zudem keinen Aktionsplan für Vielfalt und Akzeptanz von LSBTIQ*. Das sei "vollkommen aus der Zeit gefallen" und "ein gewaltiges politisches Versäumnis". Ein Aktionsplan, der systematisch für alle Bereiche des Lebens definiert, wie Vielfalt gefördert werden kann, ist auch Daueranliegen des Lesben- und Schwulenverbands (LSVD) in Bayern. Nach wie vor sähen CSU und Freie Wähler den Sinn darin nicht und gingen insgesamt "mindestens lieblos" mit LSBTIQ*-Anliegen um, beklagt der Verband. Wenn dann die Staatskanzlei von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) etwa zum CSD die Regenbogenflagge hisse, sei das eher Zeichen von "Doppelmoral".