Süddeutsche Zeitung

Umgang mit psychisch Kranken:"Stigmatisierung ist Gift"

Manche Polizisten treffen Woche für Woche bei einem Einsatz auf psychisch kranke Menschen. In einen Seminar lernen sie, wie sie in solchen Situationen agieren.

Von Dietrich Mittler, Sulzbach-Rosenberg

Gebannt blicken mehr als vierzig Augen auf kariertes Flipchart-Papier. Davor steht eine Frau, Anfang 60. Mit der Rechten holt sie weit aus. Eine rote Linie steigt steil auf, geht in die Kurve, bevor sie auf der anderen Seite jäh abstürzt. Mit einem abrupten Strich kappt Eva Maria Fleischmann die Spitze des Kegels, schreibt etwas daneben. "Wahnsinnsgrenze", lesen die Polizeibeamten. In einem der Seminarräume der Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern in Sulzbach-Rosenberg haben sie einen Stuhlkreis gebildet. In dessen Mitte steht Eva Maria Fleischmann aus Amberg. Sie ist psychisch krank, litt vor Jahren immer wieder an Wahnvorstellungen.

Nun ist sie aber guter Dinge, dass es niemals mehr nötig sein wird, dass Polizisten sie abholen und in die Psychiatrie bringen müssen. Einigen der hier Anwesenden, so hofft sie, wird sie heute nahebringen können, wie es psychisch kranken Menschen in einer Krise ergeht. Entschlossen schraffiert sie den Bereich über der soeben von ihr gezogenen roten Linie, dreht sich zu den Polizistinnen und Polizisten um und sagt: "Wenn ich in dieser Phase bin, geht gar nichts. Dann bin ich drin in meinem Film, und dann können Sie mich auch nicht mehr ansprechen."

Die Beamten horchen auf. Manche von ihnen bringen es pro Woche auf fünf, sechs Einsätze, in denen es um psychisch erkrankte Menschen geht. Das spiegelt sich nicht in offiziellen Statistiken wider, denn nach Auskunft des Innenministeriums werden solche Vorfälle zwar im Revier protokolliert, nicht aber in einer landesweiten Übersicht erfasst. Immer wieder aber tauchen solche Fälle im Presseverteiler der Polizei auf - so auch dieser: "Am Donnerstagabend bat ein Notarzt die Polizei um Unterstützung, da er bei einem Patienten war, der offenbar psychisch krank ist und der reichlich Medikamente und Alkohol genommen hatte und nun sehr aggressiv war. Auch drei anfahrende Polizeistreifen konnten den Patienten nicht beruhigen. Er beleidigte die Polizeibeamten und flüchtete kurz bis zum Nachbargrundstück. Als der Mann endlich festgehalten werden konnte, bespuckte er die Polizeibeamten und wehrte sich so heftig, dass er gefesselt werden musste."

Elfriede Scheuring, Angehörige eines psychisch Erkrankten und Projektleiterin in der Psychiatrie-Initiative "Basta", weiß, dass Medien solche Meldungen gern aufgreifen. "Leider werden meist nur reißerische Vorkommnisse zu Schlagzeilen, und dann entsteht ein Bild, dass alle psychisch erkrankten Menschen so ticken", sagt Scheuring. Das sei bei weitem nicht so, protestiert sie. "Es gibt sehr viele Begegnungen zwischen Polizeibeamten und psychisch Kranken, die friedlich ablaufen."

Friedlich heißt aber lange noch nicht frei von Angst. Denn was passiert da gerade tief im Inneren des anderen? Droht Gefahr? Liegt am Ende gar einer der Beteiligten blutüberströmt am Boden - so wie vor zehn Jahren in Regensburg der Student Tennessee Eisenberg, der die Einsatzbeamten mit einem Messer bedroht hatte? Eisenberg wurde von zwölf Kugeln getroffen, er starb. Seit 2001 bietet Basta "Sensibilisierungsseminare" für Polizeibeamte an, die sich für den gehobenen Dienst qualifizieren. Die Kurse haben vor allen Dingen ein Ziel: Eskalationen zu vermeiden und die psychisch Kranken als das zu sehen, was sie im Grunde genommen sind: Menschen, die akut Hilfe brauchen. Aber auch, wie sich Situationen entschärfen lassen - zum Selbstschutz der Polizisten.

"Gäbe es irgendetwas, womit wir es Ihnen leichter machen, Sie in die Psychiatrie zu bringen?"

Einen Vormittag lang haben die Beamten in Sulzbach-Rosenberg Zeit, die andere Seite kennen zu lernen - durch den Kontakt zu Eva Maria Fleischmann, zum Mitarbeiter eines sozialpsychiatrischen Dienstes und zur Mutter eines psychisch Kranken. Im Moment fokussiert sich aber alles auf Eva Maria Fleischmann. Wie begann ihr Leidensweg? "Beim Joggen beobachtete ich, wie der Kondensstreifen eines Flugzeugs Sonne und Mond verband - und da hatte ich die Offenbarung: Ich bin Jesus Christus", sagt sie. Später, in der Psychiatrie, flüsterte ihr eine Stimme ein, sie sei Gott. Dieser Gedanke sprengte alles: "Nein, das kann ich nicht sein, nicht Gott!", sagte sie sich. Unauflösbare Widersprüche, Gedanken in der Endlosschleife. Fadenriss. Als sie das Bewusstsein wiedererlangte, wusste sie nicht mehr, wer sie ist, wo sie ist. "Ich habe mich gefühlt wie eine leere Hülle", sagt sie. Etliche der Beamten im Stuhlkreis wirken nachdenklich.

Hinter Fleischmann liegen bereits viele Psychiatrie-Aufenthalte. Früher erlebte sie auch das: Mitpatienten, die anderen Patienten eine Flasche über den Kopf hauen wollten, Menschen, die schreien, manche, die stinken, weil sie sich im Wahn nicht waschen wollen. "Können Sie sich vorstellen, was das für mich bedeutet, wenn Sie mich in die Psychiatrie bringen?", fragt sie. Totenstille im Raum. Eine Polizistin bricht das Schweigen: "Gäbe es irgendetwas, womit wir es Ihnen leichter machen, Sie in die Psychiatrie zu bringen?", fragt sie.

Auf diesen Augenblick hat Andreas Schaal gewartet. Er ist Sozialpädagoge beim Sozialpsychiatrischen Dienst Fürth, und seit 2002 auch Mittler zwischen psychisch Erkrankten und Polizeibeamten. "Stigmatisierung ist Gift", sagt er. Letztlich helfe nur der Austausch mit persönlich Betroffenen. Tatsächlich, so Schaal, hätten die Kurse über die Jahre hinweg bei der Polizei ein Umdenken bewirkt. "Wie wir angefangen haben, wurde uns noch oft gesagt: Ihr redet euch leicht, ihr seid ja nicht dabei, wenn wir eine über den Kopf gezogen kriegen", sagt er.

Martin Metzenroth, Hochschullehrer in Sulzbach-Rosenberg, nickt. "Am Anfang gab es eine begrenzte Akzeptanz", sagt er. Inzwischen fragten die Beamten von sich aus: "Wenn ich in solche Situationen komme, was ist angemessen?" Niemand sei froh darüber, im schlimmsten Fall gar die Dienstwaffe einsetzen zu müssen. So sieht das auch Innenminister Joachim Herrmann (CSU). "Es ist gut, wenn sich Beamte in ihrer Ausbildung schon Gedanken darüber machen, wie man am besten mit psychisch erkrankten Menschen umgeht", sagt er auf Nachfrage.

In Sulzbach-Rosenberg berichten die Beamten schließlich über ihre bisherigen Erfahrungen mit psychisch Kranken. Auch von ihrer Angst. "Weil ich eben nicht weiß, wie ich mein Gegenüber einschätzen soll", heißt es in der Runde. Manche Einsätze sind nicht ungefährlich. Etliche aber, so nehmen einige nun vom Kurs mit, lassen sich durch kreatives Eingehen auf die Erkrankten entschärfen. Marianne Kriegel, die als Mutter eines mittlerweile verstorbenen psychisch Kranken ebenfalls in Sulzbach-Rosenberg referiert, wurde einmal nach dem Kurs von einem Beamten angesprochen. "Ich habe ihren Sohn gekannt", sagte der zu ihr, "und hätte ich damals gewusst, was ich jetzt weiß, ich wäre anders mit ihm umgegangen."

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SZ vom 03.08.2019/lfr
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