Umstrittene Ermittlungen:Polizei nutzt Corona-Gästelisten für Ermittlungen

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Wirte in Bayern müssen strenge Hygiene- und Abstandsregeln beachten, wenn sie Gäste bewirten. Das nutzt nun die Polizei. (Foto: Angelika Warmuth/dpa)

Mehrmals haben bayerische Beamte auf Adresslisten aus Wirtshäusern zugegriffen. Der Datenschutzbeauftragte kritisiert das scharf, Gastronomen fürchten noch mehr Einbußen.

Von Florian Fuchs, Augsburg

In Rosenheim geht es um einen Raubüberfall auf ein Schuhgeschäft, das Polizeipräsidium Oberbayern Süd bestätigt, anhand einer Gästeliste Zeugen gesucht zu haben. Das Bayerische Landeskriminalamt berichtet, dass Fahnder eine Gästeliste aus einer Gaststätte in der Umgebung von Starnberg angefordert haben, sie ermitteln in einem Rauschgiftfall. Die Registrierung von Gästen unter anderem in Lokalen soll Gesundheitsämtern helfen, Corona-Infektionsketten nachzuvollziehen. Nun aber gibt es im Freistaat Fälle, in denen die Polizei auf die Listen zurückgreift. Der Landesbeauftragte für Datenschutz, Thomas Petri, hat deshalb Prüfungen eingeleitet. "Das geht in Richtung Vorratsdatenspeicherung", kritisiert er - und fordert eine bundesweite gesetzliche Regelung, um den Zugriff der Strafverfolgungsbehörden auf die Daten einzuschränken.

Unter anderem die Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung besagt, dass Gäste etwa in Wirtshäusern ihre Kontaktdaten hinterlassen müssen. Es ist eigentlich auch festgelegt, dass die erhobenen Daten ausschließlich auf Anforderung der zuständigen Gesundheitsbehörden und zur Nachverfolgung von möglichen Infektionswegen ausgewertet werden dürfen. Dass nun Polizisten diese Listen einsehen, ist nach Auslegung des Datenschutzbeauftragten Petri rechtlich wohl trotzdem nicht zu beanstanden: Die Strafprozessordnung regelt, dass die Polizei relevante Unterlagen in Abstimmung mit Staatsanwaltschaft und Gerichten beschlagnahmen darf - also auch Corona-Gästelisten, um etwa Zeugen zu kontaktieren. "Das verwundert uns schon sehr", klagt Thomas Geppert, Landesgeschäftsführer des Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga. "Das war so nicht gedacht und von der Politik anders kommuniziert."

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Auch Petri ist alles andere als glücklich, dass dieses Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden Schule macht. Das Innenministerium bestätigt auf Anfrage einen "hohen einstelligen Fallzahlenbereich", bei dem Präsidien entsprechende Daten zu präventiven und strafverfolgenden Zwecken erhoben und genutzt haben. "Es kann nicht sein, dass die linke Hand des Staates eine klare Zweckbindung anordnet und die rechte Hand sich nicht darum kümmert", kritisiert der Datenschutzbeauftragte. Allein die Registrierung in Gästelisten ist datenschutzrechtlich heikel, Petri hat das Hygienekonzept dennoch mitgetragen. Das Infektionsgeschehen in der Corona-Pandemie sei eine Sondersituation, sagt er, die Speicherfrist der Daten auf vier Wochen begrenzt. Laut Bestimmungen darf kein Gast die Daten eines anderen Gastes einsehen. Wenn aber nun die strikte Zweckbindung aufgeweicht werde, sei dies "hochsensibel". Anhand der Daten sei es möglich, Bewegungsprofile von Personen zu erstellen. Wer geht wann in welche Gaststätte, wer hört auf Konzerten lieber Hardrock oder klassische Musik, welche Filme sieht eine Person im Kino? Und wo, fragt Petri, sei die Bagatellgrenze anzusiedeln, wann Ermittler auf die Daten zugreifen dürfen?

Das Innenministerium betont, dass in der Sache bislang keine Weisung an die Polizeipräsidien ergangen sei. Wegen der besonderen Sensibilität sollten Ermittler aber frühzeitig die Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft suchen und einen engen Maßstab an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz anlegen. Das Innenministerium betont ebenfalls, dass die Erhebung und Nutzung der Daten nach der Strafprozessordnung grundsätzlich rechtlich möglich sei. Die konkreten Fälle beziehen sich demnach vor allem auf Ermittlungsverfahren wegen schwerwiegender Straftaten, zum Beispiel Tötungsdelikte. So habe die bayerische Polizei auch in einem Ermittlungsverfahren wegen versuchten Totschlags Gästedaten erhoben, um Zeugen zu ermitteln und Erkenntnisse zu Kontaktpersonen des Beschuldigten zu gewinnen.

Petri sagt dennoch: "Die Freiheitsrechte der betroffenen Gäste und die Strafverfolgung müssen abgewogen und in eine rechtssichere Balance gebracht werden." Ihm schwebt eine bundesweite gesetzliche Regelung vor, weil das Problem alle Bundesländer betreffe. Vorbild könnte das Autobahnmautgesetz sein, bei dem der Bundesgesetzgeber die Erfassung von Kennzeichen strikt zweckgebunden hat. Petri betont, dass die Wirte sich ja auch an allerlei Auflagen halten müssen. Wenn etwa in einem Lokal Dritte die Kontaktdaten eines anderen Gastes einsehen könnten, könnte in letzter Konsequenz ein Bußgeld gegen den Wirt verhängt werden. "Wir trimmen die Gastwirte, aber die Polizei sagt, das interessiert uns nicht."

Dabei funktioniert die Registrierung bislang gut. Im Bayerischen Landesamt für Datenschutzaufsicht heißt es, dass nur 50 Beschwerden über Wirte eingegangen seien, meist weil Dritte die Daten hätten einsehen können. Beim Hotel- und Gaststättenverband steigt nun jedoch die Befürchtung, dass in der wegen der Corona-Krise ohnehin gebeutelten Branche weitere Gäste ausbleiben, die sich wegen des Vorgehens der bayerischen Polizei nicht mehr in Listen eintragen wollten. Landesgeschäftsführer Geppert kündigt an, im Einklang mit dem Datenschutzbeauftragten auf Innenministerium und Justizministerium zugehen zu wollen. Aus seiner Sicht ist nun auch die Nachverfolgung von Infektionsketten gefährdet. "Es stellt sich die Frage, wie viele Leute jetzt überhaupt noch wahrheitsgemäße Angaben über ihre Kontaktdaten machen", sagt Geppert.

Beim Raubüberfall in Rosenheim etwa hat die Einsicht in die Gästeliste die Polizei nicht weitergebracht - die Angaben auf der Liste sind laut Polizeipräsidium offenbar falsch gewesen.

© SZ vom 15.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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