Süddeutsche Zeitung

Gesundheitspolitik:Mangel an Pflegepersonal nimmt dramatische Ausmaße an

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Kliniken und Heime suchen händeringend nach Fachkräften, doch diese wechseln zunehmend zu Zeitarbeitsfirmen. Gesundheitsminister Klaus Holetschek will deshalb Wiedereinsteiger anwerben.

Von Dietrich Mittler, München

"Im Moment gehöre ich zu den Glücklichen, denn in unserem Haus ist die Fachkraftquote erfüllt. Aber wir suchen händeringend zwei Pflegehelfer", sagt Volker Breitenwieser (Name geändert). Doch auf dem Arbeitsmarkt finde er keine mehr. Breitenwieser, der im Nordosten Bayerns ein Alten- und Pflegeheim leitet, greift bei der Personalsuche mittlerweile sogar auf Ebay-Kleinanzeigen zurück. "Ich suche, suche und suche, aber wo sollen die Leute denn auf einmal herkommen", sagt er. Ros-witha Seifert, Pflegedienstleitung in einem mittelfränkischen Krankenhaus, muss indes auf Zeitarbeitsfirmen zurückgreifen, damit die vorgeschriebenen Personaluntergrenzen überhaupt noch zu erfüllen sind - ansonsten würden der Klinik Strafzahlungen drohen.

Die Kosten für ausgeliehene Arbeitskräfte seien hoch, sagt Seifert (Name geändert). Für eine Pflegekraft in der Intensivpflege liege der Stundensatz derzeit bei circa 78 Euro zuzüglich Mehrwertsteuer. Beim Klinikmanagement sorgt das für Unbehagen, doch Strafzahlungen sollte es auch keine geben. Nach Ergebnissen einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung handelt es sich dabei "um eine sich offenbar neuerdings verstärkende Entwicklung". Pflegekräfte im Klinikbereich wechseln demnach zunehmend zu Zeitarbeitsfirmen, "um endlich geregelte und zuverlässige Arbeitszeiten zu haben und Arbeitsüberlastung verhindern zu können". Und der Arbeitsmarkt aus Seiferts Sicht: leergefegt.

"Für Bayern kamen wir in einer Vor-Corona-Erhebung hochgerechnet auf 12 000 akut fehlende Vollzeit-Pflegekräfte in unseren Krankenhäusern", sagt Robert Hinke, bei Verdi Bayern der Fachbereichsleiter für die Bereiche Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen. Da aber etwa die Hälfte der Pflegekräfte Teilzeitarbeit leistet, dürfe man diese Zahl "getrost verdoppeln". Im Bereich der Altenpflege sehe es nicht minder dramatisch aus. "Konservative Hochrechnungen gehen bis 2030 von einer Personallücke von 47 945 Beschäftigten der stationären Pflege und von 14 149 Beschäftigten in der ambulanten Pflege aus", zitiert Hinke aus Studien.

Dem Gesundheitsministerium sind solche Zahlen bekannt. Erst Mitte dieser Woche wurde ein neues Gutachten des Iges-Instituts vorgestellt. "Mit Fachkräftemangel ist zu rechnen", fasst ein Ministeriumssprecher die Ergebnisse zusammen. In der Langzeitpflege - also etwa auch in den circa 1690 Heimen im Freistaat, von denen in Nordostbayern Volker Breitenwieser eines leitet - werden demnach bis 2050 "mehr als 32 000 Pflegefachkräfte mehr und beinahe 30 000 Pflegehilfskräfte mehr" benötigt. Da auch hier in Vollzeitkräften gerechnet wird, ist der tatsächliche Bedarf weit höher. Zahlen, die schwindlig machen - umso mehr, als die Iges-Studie zum Ergebnis kommt, dass für den Abbau von Dauerpflegeplätzen zu 62,8 Prozent der Fachkräftemangel verantwortlich ist.

An diesem Freitag besucht Klaus Holetschek (CSU), der in Bayern für Gesundheit und Pflege zuständige Minister, im schwäbischen Affing die Theateraufführung der dortigen Realschule. Stetig sinkende Inzidenzwerte geben ihm nun die Zeit dafür. Das Stück, das er sich anschaut, soll junge Menschen auf den Pflegeberuf neugierig machen. Holetschek war auch dabei, als kürzlich in München Pflegekräfte für ihre Belange demonstrierten. Er bekundete Solidarität, hielt mit Schwestern ein Banner in die Höhe. "Die Lösung sofort wird es nicht geben", sagt er - auf die Probleme angesprochen. Es sei ihm wichtig, "mit jenen ins Gespräch zu kommen, die sich in der Pflege engagieren oder noch in der Ausbildung sind".

Auch sagt er, die Probleme seien "ja schon länger da". Was also ist in der bayerischen Pflegepolitik falsch gelaufen? "Der Blick in den Rückspiegel ist nicht meiner", sagt er. Kurz- bis mittelfristig strebe er an, den Wiedereinstieg von Pflegekräften zu fördern - also von jenen, die dem Beruf den Rücken gekehrt haben. Im Moment bekommt Holetschek, wie er sagt, allerdings immer wieder die Rückmeldung von Pflegenden, dass die Corona-Pandemie bei ihnen "das Fass zum Überlaufen" gebracht habe. Zurück zu den Lösungen: Mentorenprogramme, um den Abbruch von Pflegeausbildungen zu verhindern. Zudem mehr Praxisanleitungen, weniger Bürokratie bei der Pflegedokumentation.

"Zeitnah möchte ich auch mit den kommunalen Spitzenverbänden ins Gespräch treten, um zu überlegen, wie wir die Pflege in den Kommunen noch besser organisieren können", sagt Holetschek. Dies ist auch dringend geboten. Zumindest legt dies die Iges-Studie nahe. Dort heißt es zum Fachkräftemangel in der Pflege: "Trotz dieser seit längerem absehbaren Entwicklung haben 41 Prozent der Landkreise und kreisfreien Städte Bayerns in den letzten fünf Jahren keine Pflegeplanung vorgenommen." Holetschek schwebt Großes vor, einen passenden Slogan hat er bereits vor Augen: "Gute Pflege daheim in Bayern". Was sein eigenes Haus betrifft, denkt er daran, das Landesamt für Pflege zu "einem Thinktank für die Pflege" zu erweitern.

Auf Bundesebene sei eine Änderung der Sozialgesetzgebung geboten. "Es kann nicht sein, dass sich Pflege an der Abrechnung orientiert", sagt Holetschek. Kürzlich hat er eine stärkere finanzielle Unterstützung für Pflegeheime angekündigt. Auch hat er auf "steuerliche Anreize für Pflegeberufe" gedrungen. Letzteres umzusetzen, ist ebenfalls Bundesangelegenheit. Hinter vorgehaltener Hand heißt es dazu auf Verbandsebene, der Minister stelle "gerne Forderungen zugunsten der Pflege, die Bayern nicht finanzieren muss". Er sei da "sehr wohlfeil unterwegs". Holetschek indes betont: "Das soll jetzt nicht nur heiße Luft sein, ich will wirklich etwas verändern." Anzupacken gibt es viel. Die Liste an Maßnahmen, die allein aus Sicht der Vereinigung der Pflegenden in Bayern notwendig sind, füllt fünf Seiten.

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SZ vom 25.06.2021
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