Organisierte Kriminalität:"Die Söder-Regierung darf nicht länger zuschauen"

Organisierte Kriminalität: Der Handel mit gefälschten Impfpässen boomt. Eine große Menge davon wurde etwa in Mittelfranken sichergestellt.

Der Handel mit gefälschten Impfpässen boomt. Eine große Menge davon wurde etwa in Mittelfranken sichergestellt.

(Foto: Polizeipräsidium Mittelfranken/dpa)

Die Grünen wähnen Versäumnisse im Kampf gegen Mafia und Verbrecherbanden - gerade im Corona-Kontext sei die Datenlage unzureichend. Das Justizministerium weist die Vorwürfe zurück.

Von Johann Osel, München

Drogenhandel, Zwangsprostitution, Schleuser oder bandenmäßiger Betrug - die Grünen im Landtag werfen der Staatsregierung strategische Versäumnisse bei der organisierten Kriminalität (OK) vor. "Die Söder-Regierung darf nicht länger zuschauen und muss der organisierten Kriminalität in Bayern endlich effektiv den Kampf ansagen", sagt die Fraktionschefin und innenpolitische Sprecherin Katharina Schulze. Sie fordert eine bessere personelle und materielle Ausstattung von Justiz und Kriminalpolizei, gerade auch bei der digitalen Expertise, sowie "funktionsfähigere Strukturen". Das organisierte Verbrechen handele "arbeitsteilig, transnational und digital" - der Staat müsse das auch. Das Justizministerium wies auf Nachfrage der SZ die Vorwürfe zurück: "Bayern ist gut aufgestellt" und bekämpfe die OK "intensiv und erfolgreich".

Schulze beruft sich bei ihrer These vom nachlässigen Agieren auf Antworten von Innen- und Justizministerium, die sie auf ein Bündel schriftlicher Anfragen mit OK-Bezug in jüngster Zeit erhalten hat. Diese zeigten, dass die Erkenntnisse zum Beispiel zur Entwicklung der italienischen Mafia oder zu kriminellen Aktivitäten von Gruppierungen in der Pandemie dürftig seien. Nötig seien breitere Lagebilder für Bayern, die zudem das "Dunkelfeld ausleuchten". In Schulzes Augen "grob fahrlässig" sei die Datenlage eben beim Corona-Kontext. Ihre Bewertung der tatsächlich schmallippigen Antworten aus den Ministerien lautet: Obwohl der Handel mit gefälschten Impfpässen boome und die Justizbehörden Tausende Betrugsfälle bei Soforthilfen registriert hätten, habe die Regierung "im zweiten Jahr der Pandemie offenbar keine Ahnung, welche Rolle die organisierte Kriminalität dabei spielt". Beim Drogenhandel räume die Regierung sogar ein, dass es im Zuge der Lockdowns eine deutliche Zunahme von Angeboten im Darknet gebe, teilte aber mit, dass man das nicht weiter erfasse.

75 Verfahren gegen 782 Verdächtige

Als organisiert gilt Kriminalität, wenn mehrere Beteiligte arbeitsteilig, in gewerblichen oder geschäftsähnlichen Strukturen, über längere Zeit und "von Gewinn- und Machtstreben bestimmt" Straftaten begehen. Dazu gibt es eine bundesweite Definition, nach diesem Raster wurden 2020 in Bayern 75 Verfahren gegen 782 Verdächtige aus 51 Ländern geführt. Sind gewisse Merkmale nicht erfüllt, laufen die Ermittlungen nicht als OK-Sache. Generalstaatsanwaltschaften und Landeskriminalamt veröffentlichen dazu jährlich ein eher knappes Lagebild, zuletzt für 2020. Dessen Autoren stellen klar, keine Spekulationen zu erstellen: Aus statistischen Grunddaten können "keine validen Einschätzungen zu Art und Umfang eines möglichen Dunkelfeldes abgeleitet werden".

"Die Justiz hat ihre Schlagkraft erhöht", teilte Justizminister Georg Eisenreich (CSU) mit, "eng vernetzt mit Kollegen der Nachbarländer fahnden inzwischen rund 50 spezialisierte Staatsanwälte in bayerischen Grenzregionen". Diese OK-Strafverfolger ermitteln "an Bayerns potenziellen Einfallstoren der internationalen Kriminalität, vom Flughafen Memmingen über die Alpenregion bis zum Grenzübergang Waidhaus in der Oberpfalz". Eine Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft zusätzlich und speziell zur Vermögensabschöpfung bei OK, wie sie Schulze überdies empfiehlt, lehnt das Ministerium ab. Die politische Forderung nach "Allheilmitteln" für sämtliche Kriminalitätsphänomene sei "ideenlos und unsachgemäß". Bei der Generalstaatsanwaltschaft München gebe es eine zentrale Koordinierungsstelle zur Vermögensabschöpfung, um Gerichte und Staatsanwaltschaften dabei zu unterstützen, Geld von Verbrecherbanden "konsequent einzuziehen". Diese habe sich bewährt. Für die Polizeiseite hatte auch Innenminister Joachim Herrmann (CSU) beim letzten Lagebild auf ein funktionierendes "Erfolgsrezept" verwiesen: spezialisierte OK-Einheiten bei allen Polizeipräsidien und ein eigenes Dezernat im LKA.

2020 wurde in Bayern die zweithöchste Zahl von OK-Verfahren im Bundesgebiet geführt. Dazu gehören häufig auch Wirtschaftsdelikte wie Anlage- oder Callcenter-Betrug. Oder Sprengungen von Geldautomaten, eine neue Art des Bankraubs, bei der etwa Tätergruppen von Niederländern mit marokkanischen Wurzeln ausgemacht wurden. Zur OK zählt auch der kriminelle Teil der Rocker-Szene und rockerähnliche Gruppen, die unabhängig von Motorrädern als Gangs auftreten. Das Lagebild erfasst die dominierende Staatsangehörigkeit in OK-Gruppen. Am häufigsten genannt sind Deutschland und die Türkei, auffällig sind zudem Süd-, Ost- und Südosteuropa. "Clankriminalität" mit arabischstämmigen Familien, wie sie in anderen Bundesländern medial im Fokus steht, zeigte sich in Bayern bisher nicht als relevanteres Phänomen.

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