Ein vogelkundlicher Spaziergang im Winter? Das ist ein eher mühseliges Unterfangen. Schon in der Grundschule lernt man, dass man die heimische Vogelwelt am besten im Frühjahr und im Frühsommer erleben kann. Denn in diesen Jahreszeiten tschilpt, pfeift und flötet es überall von den Bäumen herab und aus den Büschen heraus. Dann stecken all die Amseln, Meisen, Finken und anderen Arten, die hier zuhause sind, nämlich ihre Reviere ab und bauen ihre Nester. Dabei singen sie, was das Zeug hält. Wer früh genug aufsteht, bekommt den besten Eindruck von der Vielfalt. Frühmorgens singen die meisten Vögel besonders intensiv.

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Aber im Winter? Da herrscht doch überall Stille. Die heimischen Vögel, die hier bleiben, sind voll damit beschäftigt, durch die kalte Jahreszeit zu kommen. Sie geben allenfalls ein paar Erkennungslaute oder Warnrufe von sich. Da ist für Vogelbeobachter wenig zu holen. Ausnahme sind die großen Seen in Bayern, der Altmühlsee etwa, der Chiemsee oder der Ismaninger Speichersee im Münchner Norden. Da rasten Enten, Gänse, Säger, Rallen und andere Wasservogelarten aus dem Norden auf ihrem Winterflug. Und zwar zu Tausenden. Das zieht natürlich Beobachter an.
Ein Treffen mit Manfred Siering, im Süden von München, unten an der Isar. Der 78-jährige frühere Banker ist Vorsitzender der Ornithologischen Gesellschaft in Bayern und zählt zu den besten Kennern der heimischen Vogelwelt. Es ist ein diesiger, grauer Montag im Frühwinter. Es geht um den bayerischen Wintervogelatlas. Das ist das neueste Projekt, das Sierings Ornithologische Gesellschaft im Verbund mit dem Landesbund für Natur- und Vogelschutz (LBV) in diesem und im nächsten Winter auf die Beine stellen will. Siering will einem das Projekt bei einem Spaziergang erklären.

Zunächst aber dreht es sich darum, welche Vögel man bei so einem Spaziergang sehen kann. Das sind dann doch einige, auch wenn sie gewiss keine Raritäten sind. „Die Spechte sollten hier eigentlich alle anzutreffen sein“, sagt Siering, wie er da auf dem krummen Pfad durch den Auwald pirscht. „Außerdem hoffe ich auf ein paar Fichtenkreuzschnäbel.“ Die Waldamseln freilich, die sind alle weg, erklärt Siering einem gleich darauf, „anders als die Amseln in der Stadt fliegen sie über den Winter über die Alpen in den Süden“.
Zuallererst sind allerlei Meisen in den Bäumen. Blaumeisen etwa und Kohlmeisen, dazu Sumpfmeisen. Wenig später – vom Isarufer aus, wo der Blick in den Himmel frei ist – sieht Siering hoch oben zwei Turmfalken kreisen, auf einer Kiesbank gut 150 Meter flussabwärts macht er eine Wasseramsel aus, die geschäftig hin und her eilt. Siering erkennt sie mit bloßem Auge, sein Fernglas braucht er nur, um die Sichtung zu bestätigen. Das ist beachtlich: Wasseramseln sind kleiner als Stare. Die Art ist ebenfalls eher häufig, kommt aber nur an schnell fließenden Bächen und Flüssen wie eben der Isar vor.

Und dann sind da immer wieder Buchfinken. Natürlich, denn sie zählen ja auch zu den Allerweltsvögeln. Ihr lateinischer Name lautet Fringilla coelebs. „Auf Deutsch der Junggeselle“, wie Siering erklärt. Damit hat es eine besondere Bewandtnis. „Die Buchfinken-Jungen und die -Weibchen überwintern in der kalten Jahreszeit jenseits der Alpen“, sagt Siering. „Nur die Männchen bleiben hier, deshalb der Zusatz coelebs oder Junggeselle im Namen der Art.“ In einer Fichte sitzt ein Kleiber, er ist an seinem blau-orangefarbenen Gefieder gut zu erkennen.

Damit zum bayerischen Wintervogelatlas, den die Ornithologische Gesellschaft und der LBV in diesem und im nächsten Winter erstellen. Ungefähr 600 Ornithologen beteiligen sich an dem Großwerk. Ganz Bayern wird dafür in Planquadrate aufgeteilt, ein jeder nimmt sich eines vor und dokumentiert darin die Wintervogelwelt. Der Atlas soll all das, was Siering einem bei dem Spaziergang so locker erzählt, systematisch und möglichst komplett erfassen. „Im Mittelpunkt stehen die häufigen Wintervogelarten“, wie der LBV-Chef Norbert Schäffer am Telefon erläutert. „Seltene Gäste, wie Rohrweihen oder Sumpfohreulen, werden für gewöhnlich schnell gemeldet, die haben wir gut im Blick.“ Der bayerische Wintervogelatlas ist der erste seiner Art in einem Bundesland.

Mit dem Wintervogelatlas betreten die Ornithologische Gesellschaft und der LBV Neuland. „So ein Werk über die flächendeckende Verbreitung der Wintervögel gibt es bisher nicht“, sagt Schäffer. Wenn die Ornithologen hierzulande Aussagen über die Vogelwelt im Winter machen wollen, sind sie bisher auf die „Stunde der Wintervögel“ angewiesen. Das ist eine Mitmachaktion des LBV, die sich dieses Jahr zum 20. Mal jährt. Dabei zählen Tausende Freiwillige jedes Jahr an einem Wochenende im Januar eine Stunde lang die Vögel und die Arten, die sie an dem Futterhäuschen in ihrem Garten oder auf dem Balkon oder bei einem Spaziergang im Park sehen.
Die Daten gehen an den LBV. Der erstellt daraus jedes Jahr ein Ranking der häufigsten Wintervogelarten. 2024 und die Jahre zuvor rangierten der Hausspatz, die Blaumeise und der Feldspatz auf den ersten drei Rängen. Der Fichtenkreuzschnabel, auf den Siering bei seinem Spaziergang hoffte, lag mit Rang 75 sehr viel weiter hinten. Ebenso die Spechte. Die nächste Stunde der Wintervögel findet von 10. bis 12. Januar statt.

„Die Stunde der Wintervögel ist eine super Aktion“, sagt Schäffer. „Aber sie hat einen Nachteil. Sie liefert uns nur einen Überblick über die Vogelwelt in Wohngebieten und siedlungsnahen Räumen.“ Was den Ornithologen fehlt, sind Daten aus den ländlichen Regionen. „Aus dem niederbayerischen Gäuboden zum Beispiel“, wie Schäffer erklärt. „Oder aus dem Bayerischen Wald.“ Aus dem Gäuboden seien in den Wintern früher traditionell große Schwärme Finkenvögel gemeldet worden, aktuell wisse keiner in der Vogelszene so genau, ob es solche Finkenschwärme dort noch gibt. „Das ist nur ein Beispiel für das, was wir jetzt mit dem Wintervogelatlas abklären wollen“, sagt der LBV-Chef.

Denn, da sind sich Siering und Schäffer mit vielen anderen Experten einig, es ändert sich gerade was in der Wintervogelwelt in Bayern, und zwar einiges. Der Grund ist die Klimakrise. Mit den immer milderen Wintern hierzulande zeigen viele Vogelarten neue Verhaltensweisen. Ein Paradebeispiel dafür sind die Buchfinken, von denen traditionell eigentlich nur die Männchen hierzulande überwintern. „Inzwischen stellen wir fest, dass immer öfter auch die Weibchen und die Jungvögel auf den Winterflug über die Alpen verzichten“, sagt Siering. „Sie bleiben ebenfalls hier.“ Sie sparen sich dadurch Kraft, außerdem meiden sie so die Gefahren, die so ein Winterflug für die Vögel immer hat.
Von anderen Arten sind inzwischen ähnliche Beobachtungen bekannt. „Für mich waren Stare immer Zugvögel, die Februar zurück in meine fränkische Heimat gekommen sind“, sagt Schäffer. „Jetzt sind die Stare immer öfter den ganzen Winter da.“ Ganz ähnlich ist das bei den Hausrotschwänzen. „Aber auch beim Zilpzalp war es früher undenkbar, dass er in der kalten Jahreszeit da ist“, sagt Schäffer. „Jetzt ist genau das der Fall.“ Von den Weißstörchen weiß man inzwischen ebenfalls, dass viele nur bei einer geschlossenen Schneedecke ins Winterquartier fliegen. „So lange die Wiesen grün sind und sie genügend Mäuse zum Fressen finden, haben sie keinen Grund dafür“, sagt Schäffer. „Anders als man früher gedacht hat, macht ihnen die Kälte nämlich nichts aus.“

Die Spechte und die Fichtenkreuzschnäbel, die Manfred Siering bei dem Spaziergang an der Isar anzutreffen erwartet hatte, zeigen sich übrigens nicht. Dabei müssen sie da sein. Die Spechte etwa haben schier unzählige Höhlen in die Stämme der vielen, zum großen Teil abgestorbenen Bäume dort gehämmert. Allein schon wegen der Höhlenbäume lohnt sich ein Spaziergang durch den Auwald dort – auch wenn die Spechte selbst, wie an diesem Vormittag, ganz im Verborgenen bleiben.

