Bayerische Juden in der NS-Zeit„Im Kindergarten, da wurden wir immer mit Steinen beworfen“

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Der Möbelcontainer einer jüdischen Familie, die 1939 in die USA emigriert (Symbolbild).
Der Möbelcontainer einer jüdischen Familie, die 1939 in die USA emigriert (Symbolbild). (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Der Journalist und Autor Thomas Muggenthaler zeichnet in seinem Buch „Mit dem Leben davongekommen“ die Lebenswege bayerisch-jüdischer Emigranten nach. Es sind Geschichten über Flucht und Rückkehr und den ambivalenten Blick auf die alte Heimat.

Von Alexander Kappen, München/Regensburg

Sie habe sich nicht vorstellen können, dass der Rechtsextremismus in Deutschland wieder so stark werden würde, sagt Henny Brenner im Jahr 2019 im Gespräch mit dem Journalisten und Autor Thomas Muggenthaler. Sie mache sich „große Sorgen“.

Ruth Weiss, die er vier Jahre später trifft, verweist auf den Anschlag von Halle im Jahr 2019. „Auf den in der heutigen Zeit erstarkten Antisemitismus wies sie auch drei Tage vor unserem Interview bei ihrer Rede im Landtag von NRW hin. Dort berichtete sie, dass jüdische Freunde von ihr in Deutschland überlegen, auszuwandern“, schreibt Muggenthaler. Und auch Emanuel Gutmann, der nach dem Krieg oft nach Deutschland kam, um zur Aufklärung und zur Versöhnung beizutragen, zeigte sich bei seiner Begegnung mit Muggenthaler überrascht, wie stark der Rechtsextremismus wieder geworden ist.

Henny Brenner, Ruth Weiss und Emanuel Gutmann – das sind drei von 34 Menschen, deren Schicksalen Thomas Muggenthaler in seinem neuen Buch „Mit dem Leben davon gekommen“ nachspürt. Darin erzählt er die Geschichten von bayerischen Jüdinnen und Juden, denen nach der sogenannten „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten im Jahr 1933 die Flucht gelang – und deren Aussagen Jahrzehnte später deutlich machen, wie aktuell das Thema auch heute noch ist.

Mit der Machtübernahme der Nazis begann auch die Verfolgung der Jüdinnen und Juden. Sie wurden aus der Gesellschaft gedrängt, fühlten sich als Ausgestoßene. Wer konnte, verließ das Land. Einige der Geflüchteten kamen später wieder in ihre bayerische Heimat zurück. Andere konnten Bayern und Deutschland nie mehr als ihre Heimat ansehen.

Der studierte Politikwissenschaftler und Soziologe Thomas Muggenthaler – ausgezeichnet mit dem Deutsch-tschechischen Journalistenpreis, dem Bayerischen Fernsehpreis und dem Bundesverdienstkreuz – befasst sich seit Mitte der 1980er-Jahre mit bayerisch-jüdischen Schicksalen. Erstmals intensiv mit der Shoah beschäftigt hatte er sich in seiner Magisterarbeit über „Cham in der NS-Zeit“. Schon damals trieb ihn die Frage um, wie es den Jüdinnen und Juden erging, die fliehen konnten. Ihn interessierte, welche Erinnerungen und Erfahrungen sie gemacht hatten und was aus ihnen geworden ist.

Im Laufe seines Berufslebens verfasste er für den Bayerischen Rundfunk zahlreiche Hörfunkbeiträge und Filme über die NS-Zeit. Bereits nach der ersten Radiosendung mit dem Titel „Das ist nicht mehr meine Heimat“ über Emigrantinnen und Emigranten in Israel sei das Vorhaben entstanden, „die Porträts auch in schriftlicher Form zu publizieren“, schreibt Muggenthaler in seinem neuen Buch. Die drei Regensburgerinnen aus der ersten Sendung über Israel, Rosel Steiner, Ruth Nizav und Gerda Oppenheimer, alle Jahrgang 1923, hat er bereits in früheren Publikationen vorgestellt. „Im Laufe der Jahre wurden die Begegnungen mehr, sodass sich eine lose Sendereihe ergab“, so der Autor.

Die Begegnung mit Zeitzeugen dient als Grundlage für das Buch

Die Begegnungen mit den Zeitzeugen bildeten die Grundlage der in seinem neuen Buch gesammelten Porträts. Durch Archivrecherchen ergänzte und konkretisierte er die persönlich gehaltenen Berichte. Muggenthaler interviewte Emigranten in Israel, den USA und Argentinien. Er sprach aber auch mit Shoah-Überlebenden, die nach ihrer Befreiung nach Bayern zurückgekehrt sind und dort wieder jüdisches Leben aufgebaut haben. Die von ihm beschriebenen Lebensgeschichten sind einerseits sehr unterschiedlich, weisen andererseits aber auch viele traurige Parallelen auf.

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So geht es in den Gesprächen immer wieder um die schwierigen Umstände der Emigration und die Hürden, die es dabei zu bewältigen galt. Aber auch um den nicht einfachen Neuanfang, ob in Palästina, in Südamerika oder den USA, verbunden oft mit sozialem Abstieg. Die Jüdinnen und Juden, die in dem Buch zu Wort kommen, reden aber auch über Ausgrenzung und Anfeindungen, die sie vor ihrer Flucht erfuhren, über die Reichspogromnacht am 9. November 1938, ihre KZ-Haft sowie Freunde, nahe Verwandte und Bekannte, die sie durch die Shoah verloren haben.

Eindrücklich sind Schilderungen über den Antisemitismus, der Jüdinnen und Juden auch vor 1933 schon entgegenschlug und selbst vor den Kleinsten nicht Halt machte. So erinnert sich der Weidener Rudi Steiner, Jahrgang 1927, im Gespräch mit Thomas Muggenthaler: „Ich weiß, mit fünf Jahren bin ich in den Kindergarten gegangen und man hat Steine auf uns geworfen. Dann ist immer jemand Erwachsener mit uns gegangen, um uns zu bewachen. Das war noch nicht in der Schule, sondern im Kindergarten, da wurden wir immer mit Steinen beworfen, und es hieß ‚Saujud‘ und sie sind uns nachgelaufen, vor Hitler!“

Ähnliche Schicksale mit ganz unterschiedlichen Ausprägungen

Auch wenn sich die Schicksale in vielerlei Hinsicht gleichen, hat jede Lebensgeschichte doch ihre ganz eigenen Ausprägungen und Wendungen, sodass jedes einzelne Porträt den Leser auf unterschiedliche Weise berührt. Vorgestellt werden Emigrantinnen und Emigranten, die nach ihrer Flucht nie wieder nach Deutschland zurückgekehrt sind und solche wie Ruth Nizav, die zwar zu Besuchen zurückgekommen ist, aber nicht verstehen kann, dass Juden heute in Deutschland leben können.

Und auf der anderen Seite Menschen wie der Münchner Uri Siegel, der aus der Emigration zurückkehrte, um sich als Rechtsanwalt für Wiedergutmachung einzusetzen. Oder Israel Offmann, der 1950 aus Palästina nach Straubing zurückkam, dort und in Regensburg Musiklokale eröffnete und einmal einen Auftritt der Beatles im Regensburger Colosseum ablehnte, weil sie ihm „zu laut“ waren und er „böse Nachbarn“ hatte.

Die unterschiedlichen Beziehungen der Emigranten zu ihrer früheren Heimat veranschaulichen auch die Regensburgerin Ilse Oster und der Landshuter Helmut Teichner, die beide in die USA ausgewandert sind. Während Oster auch Jahrzehnte später unversöhnlich auf Deutschland zurückblickt („Wenn jemand einen nicht will, dann will man ihn auch nicht.“), schlägt Teichner im Sommer 1989 beim Interview versöhnliche Töne an: „Für mich ist Deutschland immer noch meine Heimat. Das Land, die Berge, die Flüsse sind noch genauso schön und das Landshuter Bier schmeckt auch noch gut.“

In der Gesamtheit, so urteilt Michael Brenner, Professor für Israel-Studien und Sohn der im Buch vorgestellten Henny Brenner, in seinem Vorwort, „ist dieser Band nicht nur eine faszinierende Lektüre, sondern auch eine wichtige Quellensammlung für spätere Historiker, die einmal die Geschichte dieser Emigration schreiben werden“.

Thomas Muggenthaler: „Mit dem Leben davongekommen – Exil und Neuanfang. Bayerisch-jüdische Lebenswege“, Volk-Verlag München 2025,  ISBN 978-3-86222-523-1

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