Kadaver von Wildtieren sind unansehnlich, riechen unangenehm, ziehen Unmengen Fliegen an und gelten oft als eine Gesundheitsgefahr. Die allermeisten Menschen ekeln sich denn auch vor toten Wildtieren. Rehe und Wildschweine, die bei Verkehrsunfällen getötet werden, werden deshalb schnell in eine Tierkörperbeseitigungsanstalt gebracht. Aus der Sicht von Ökologen erfüllen Kadaver freilich extrem wichtige Funktionen im Naturkreislauf. „Wir haben hier bei uns im Nationalpark Bayerischer Wald alles in allem 14 000 Tier- und Pflanzenarten dokumentiert“, sagt der Kadaverökologe Christian von Hoermann, der in dem Schutzgebiet über Aas in der Natur forscht und zu den führenden einschlägigen Experten zählt. „6000 Arten davon haben wir an Aas nachgewiesen. Allein das zeigt, wie wichtig Kadaver für die Ökologie sind.“
Auch im Nationalpark Berchtesgaden, Bayerns zweitem Nationalpark, haben sie längst ein Bewusstsein für die Bedeutung von Aas in der Natur – nicht zuletzt durch das Bartgeier-Projekt, das sie dort mit dem Landesbund für Vogel- und Naturschutz betreiben. Die mächtigen Greifvögel sind Aasfresser. Sie haben sich auf das Vertilgen der Knochen toter Tiere spezialisiert. Ohne Kadaver von Gämsen, Rotwild und anderen Großtieren hätten die Bartgeier keine Nahrung und damit keinen Lebensraum. Im Hochgebirge wie in den Bergen bei Berchtesgaden ist freilich ausreichend Aas vorhanden. Denn in den Felsregionen dort stürzen immer wieder Gämsen und andere Tiere ab oder werden von einem Felssturz erschlagen.
Jetzt haben sie im Nationalpark Berchtesgaden sogar einen Themenweg über Aas in der Natur installiert. Er ist der erste seiner Art in Deutschland, führt von der Nationalpark-Infostelle Klausbachhaus hinauf zur Halsalm und informiert an sechs Stationen über Aas und Kadaver und ihre zentrale Funktion in der Ökologie. Im oberen Bereich gibt es Infos über das Bartgeier-Projekt im Nationalpark, schließlich legt die Stelle, an der jedes Jahr zwei junge Greifvögel ausgewildert werden, am Fuße einer Felswand direkt gegenüber. Im unteren Bereich des Themenwegs liegt etwas abseits vom Hauptweg die Station „Tod und Leben“. Je nach Witterung legt die Nationalpark-Mitarbeiterin Sina Greiner, die das Berchtesgadener Aasprojekt betreut, dort alle vier bis sechs Wochen einen neuen Kadaver aus. „So kann man das Werden und Vergehen mit allen Sinnen erleben“, sagt Greiner. „Nur anfassen sollte man den Kadaver aus hygienischen Gründen nicht.“

Bei den toten Tieren handelt es sich zumeist um Rehe, die bei Verkehrsunfällen getötet worden sind. Die Kadaver werden dem Nationalpark von Jägern aus der Region zur Verfügung gestellt. Schon kurz nachdem Greiner solch ein totes Tier an der Station abgelegt hat, wimmeln und wuseln Raupen, Maden, alle möglichen Schmetterlinge und anderen Insekten darauf herum. Aaskäfer legen ihre Eier auf ihm ab, Wespen jagen nach Käferlarven, nächtens kommen Füchse und andere große Aasfresser herbei. Und mit ein wenig Glück kann man beobachten, wie ein Mohrenfalter mit seinem Rüssel Salze und andere Nährstoffe von der Haut des Kadavers abtupft. „Aas ist unglaublich faszinierend“, sagt Greiner. „Es ist ein Hotspot des Lebens. Man kann sehen, riechen und sogar hören, wie hier in jeder Sekunde aus dem Tod neues Leben entsteht.“
Information und Aufklärung auf dem Themenweg ist das eine. Das andere ist ein Forschungsprojekt, das an den Nationalparks im Bayerischen Wald und in Berchtesgaden und 13 weiteren großen Schutzgebieten in Deutschland läuft. Sein Titel lautet „Belassen von Wildtierkadavern in der Landschaft – Erprobung am Beispiel der Nationalparke“, es ist bis 2025 angesetzt. Im Zuge dessen hat Kadaverökologe Hoermann herausgefunden, dass an dem Aas im Nationalpark Bayerischer Wald exakt 3276 Pilzarten leben, dazu 1820 Arten von Bakterien. Mit großem Abstand folgen Zweiflügler (97 Arten), Käfer (92 Arten) und Wirbeltiere wie Füchse, Wölfe oder Luchse (17 Arten). Außerdem gibt Aas extrem viel mehr Nährstoffe frei als andere organische Materie wie Holz oder Blattwerk. Die Nährstoffe aus einem 30 Kilo schweren Großtierkadaver reichen demnach aus, um den Boden, auf dem er liegt, hundert Jahre lang zu düngen.
Im Nationalpark Bayerischer Wald haben sie zudem immer mal wieder Spezialführungen für Schulklassen, aber auch Fortbildungen zum Beispiel für Lehrer angeboten. Bei den Führungen hat Hoermann festgestellt, dass die Kinder „keinerlei Berührungsängste zeigten, ganz im Gegenteil, sie waren richtig interessiert“. Nach seiner Erfahrung hat das auch damit zu tun, dass Aas vor allem für jüngere Schülerinnen und Schüler noch kein negatives Image hat.