Bayern in der Nachkriegszeit:"Ein kaltherziges und brutales Land"

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Männer und Frauen stehen 1946 Schlange vor einem Lebensmittelgeschäft, um Kartoffeln einzukaufen. Die Ware ist auf der Straße vor dem Geschäft aufgeschüttet. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Der schwedische Journalist Stig Dagerman reiste im Herbst 1946 durch das kriegszerstörte Deutschland. Seine Reportagen werfen einen ungewohnten Blick auf die damalige Tristesse. Auch seine Erfahrungen in Bayern klingen ganz anders, als man sie aus heutiger Sicht erwarten würde.

Von Hans Kratzer, München

Not und Elend, das waren im Jahr 1946 die deutschen Großmächte. "Es war ein trister Herbst mit Regen und Kälte, Hungerkrisen im Ruhrgebiet und Hunger ohne Krisen im Rest des alten Dritten Reichs." Dies schrieb der schwedische Journalist Stig Dagerman (1923-1954), den die Zeitung Expressen damals nach Deutschland geschickt hatte. Er sollte dort über die Verhältnisse in dem zerstörten Land berichten. Dagerman war erst 23 Jahre alt, als er wochenlang das Land bereiste und Eindrücke für seine Texte sammelte, die bis heute einen großen Eindruck machen.

Dagermans Reportagen erschienen in Schweden als Sammelband im Mai 1947. Nachdem sie nun in einer neuen deutschen Übersetzung erschienen sind (Stig Dagerman, Deutscher Herbst, Guggolz Verlag), wird erst recht deutlich, welch ein wertvolles Zeitdokument da vor einem liegt. Dagerman beleuchtet nicht nur die Situation in den Großstädten und auf dem Land, sondern er reflektiert überdies all das, was er in Zügen, bei Politikerreden und in Gerichtsprozessen erlebt hat. Dabei rückt auch Bayern ins Blickfeld, aber ganz anders, als man es erwarten würde.

Der schwedischer Journalist und Schriftsteller Stig Dagerman bereiste 1946 das kriegszerstörte Deutschland. (Foto: Guggolz Verlag)

Bayern im Herbst 1946. Da scheint in der Rückschau vor allem der Aufbruch durch, wie er zuletzt bei den Feiern zum 75-jährigen Bestehen der Bayerischen Verfassung zum Ausdruck kam. Die ersten Wahlen, das Inkrafttreten der Verfassung, die Amerikaner, die das Land geschwind hochpäppelten - das ist das gängige Bild. Dagerman beschreibt dagegen die Hoffnungslosigkeit und die Tristesse, die zur Normalität geworden waren. Von einer Aufbruchsstimmung ist bei ihm wenig zu spüren. Vor allem in den Städten fehlte es überall am Nötigsten.

Blick in den nahzu menschenleeren Hauptbahnhof in München im Jahre 1946. (Foto: Francé, W. B.)

Dagermans Blick ist glasklar. In einem Brief schreibt er im November 1946: "Heute Nachmittag bin ich von München nach Nürnberg gekommen, und in dieser dunklen und tristen Stadt, die anscheinend niemals Sonnenschein erlebt hat, werde ich mich mit Sicherheit nicht wohlfühlen. Hier gibt es wohl nicht viel zu sehen außer den Ruinen, die ungewöhnlich zahlreich sind. Und ich werde mich die drei Tage, die ich hier bin, ganz auf den Prozess konzentrieren."

Wie der Übersetzer Paul Berf im Nachwort des Buchs anmerkt, sandte Expressen ganz bewusst keinen gestandenen Korrespondenten nach Deutschland. Ein solcher hätte mit den Besatzungsmächten zusammenarbeiten müssen, was seine Freiheit stark eingeschränkt hätte. Dagerman aber war mit einer Deutschen verheiratet und konnte das Land bereisen, um Verwandte seiner Frau zu besuchen, wovon sich die Zeitung überraschendere Blickwinkel erhoffte. Und diese Hoffnung erfüllte sich.

Eine gängige Nachkriegsszene: Ein vermutlich ehemaliger Soldat ohne Beine sitzt an einem Straßenrand in München. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Einmal besuchte der Reporter einen Güterzug, der seit einer Woche im Dauerregen in einem Essener Bahnhof stand. In den Waggons hockten ein paar Hundert Essener, die man nach Bayern evakuiert hatte, nachdem die ersten alliierten Bombenteppiche über dem Ruhrgebiet ausgerollt worden waren. Nun waren die Menschen in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, besser gesagt zum Bahnhof ihrer Heimatstadt, in die Stadt durften sie nicht hinein. "Es herrscht ein Zuzugsverbot", schreibt Dagerman, "es ist untersagt, Arbeit zu suchen, zu essen und zu wohnen. Das wissen auch die bayerischen Behörden, aber dieses Wissen hindert sie nicht daran, . . . die evakuierten Nichtbayern auszuweisen, die man auf die vom Krieg verschont gebliebenen ländlichen Regionen Bayerns verteilt hatte."

"Stellen Sie sich vor, Landsleute, die Landsleute ausweisen."

In Bayern waren die Menschen in undichte Güterzüge gezwängt worden. Während der Fahrt gab es offiziell nichts zu essen, immerhin spendierte die Heimatstadt einen Teller wässriger Suppe pro Tag. Dagermans Schilderung aus dem Ruhrgebiet ist nicht weniger erschütternd als heutige Reportagen aus den Elendsgebieten dieser Welt. Er zitiert einen jungen Mann, der sagte, allen im Zug sei bewusst, dass Hitler und kein anderer schuld sei, aber die Behörden in Bayern hätten weniger rücksichtslos auftreten können. Der Waggon war mit Kreideschrift vollgekritzelt: "Wir danken dem Herrn Hoegner (dem bayerischen Ministerpräsidenten) für die freie Fahrt."

Verbittert sagte ein Mann: "Stellen Sie sich vor, Landsleute, die Landsleute ausweisen. Hier wenden sich Deutsche gegen Deutsche. Das ist das Fürchterlichste an dem Ganzen." Dagerman schreibt, für die vielen jungen Menschen, die nicht zu einem nationalsozialistischen, sondern zu einem idealistischen Nationalismus erzogen worden waren, sei die Erfahrung deutscher Rücksichtslosigkeit gegen Deutsche ein furchtbarer Schock. Weiter führt er aus, die Gegensätze zwischen den großen Interessengruppen im Volk seien "so tiefgreifend, dass sie die reaktionären Kräfte bis zu einem gewissen Grad ihrer Operationsbasis berauben, von der aus sie effektive neonationalistische Propaganda betreiben könnten".

SPD-Vorsitzender Kurt Schumacher 1947 bei einer Rede während einer Kundgebung der SPD in Frankfurt. (Foto: Gerhard Baatz/AP)

Es ist ein erschütterndes Bild, das der Autor ausbreitet. Die Insassen des Zugs hassten die bayerischen Bauern und die Bayern im Allgemeinen, das relativ wohlhabende Bayern blicke seinerseits leicht verächtlich auf das übrige hysterische Deutschland herab. Die Bevölkerung in den Städten werfe den Bauern vor, sie schleusten Lebensmittel auf den Schwarzmarkt, und die Bauern behaupteten ihrerseits, die Städter reisten auf dem Land umher und plünderten sie aus. Die Flüchtlinge aus dem Osten sprachen schlecht über die Russen und Polen, wurden aber selbst als Eindringlinge betrachtet, was letztlich dazu führte, dass sie mit der Bevölkerung im Westen auf dem Kriegsfuß standen. Das bittere Ergebnis: "Die bedrückte Atmosphäre im Westen wird von hasserfüllten Stimmungen durchzogen. Die Hoffnungslosigkeit hängt wie eine graue Wolke aus Blei und nasser Kälte über unseren Köpfen."

In der Reportage "Kalter Tag in München" beschreibt Dagerman eindrücklich die nationalistische Färbung, die er in einer Rede des damaligen SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher auf dem Münchner Königsplatz erkannte. Dann packt er noch einen Hammer aus: "Bayern, das kaltblütig evakuierte Hannoveraner, Hamburger oder Essener in die völlig unmöglichen Zustände in ihren Heimatstädten zurückschickt, ist natürlich ein egoistisches, kaltherziges und brutales Land, aber das ist nur die halbe Wahrheit." Dagermann hält Bayern auch zugute, dass es "gerade dort einen nicht unbedeutenden passiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus gab".

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