Man stelle sich die folgende Szene am besten wie ein Spitzweg-Gemälde vor. Wir schreiben den Neujahrstag des Jahres 1822, und der Gelehrte Johann Andreas Schmeller sitzt still sinnierend in seiner Stube. Bis er plötzlich sein Tagebuch aufschlägt und einen Eintrag formuliert, aus dem hervorgeht, dass er einen gewissen Stolz verspürt. Schmeller schreibt: "Ein liebwerthes Neujahrsgeschenk ist mir des Protogrammatikers Jacob Grimm in Cassel Zuschrift und Urtheil über mein Buch."
Bei dem besagten Werk, das Grimm gelobt hat, handelt es sich um Schmellers erste große wissenschaftliche Abhandlung, die anno 1821, also vor 200 Jahren erschienen ist. Sie umfasst 567 Seiten und trägt den Titel "Die Mundarten Bayerns, grammatisch dargestellt". Mit diesem Buch wurde Schmeller zum Begründer der wissenschaftlichen Dialektologie. Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm waren zu jener Zeit schon ziemlich populär. Das lag zum einen an ihren Kinder- und Hausmärchen, zum anderen am 1818 erschienenen ersten Band ihrer Deutschen Grammatik, einem wegweisenden Werk der aufblühenden Sprachwissenschaft. Im Jahr 1818 lag zwar auch schon eine erste Fassung von Schmellers Grammatik vor, sie wurde aber unter dem Eindruck des Grimm'schen Werks nochmals überarbeitet.
Als sich der Geheimrat Josef von Hormayr einmal dazu hinreißen ließ, Schmeller den "bayerischen Grimm" zu nennen, trug jener das Lob zwar frohgemut in sein Tagebuch ein, fügte aber hinzu: "Ich, der bairische Grimm! Jawohl! In dem Sinne, in dem das bairische Meer, der Chiemsee, mit dem deutschen Meer, der Nordsee, mag verglichen werden." Bei aller Bescheidenheit, die er ausstrahlte: Johann Andreas Schmeller war ein Geistesriese, der ein schier unglaubliches Lebenswerk geschaffen hat, obwohl ihm dafür viel zu wenig Zeit zur Verfügung stand. In kaum 20 Jahren verfasste er die Grammatik wie auch sein vierbändiges "Bayerisches Wörterbuch", das in den Jahren 1827 bis 1837 erschienen ist (und von 1872 bis 1877 in einer erweiterten Neuauflage). Es setzte den Maßstab für alle deutschsprachigen Mundartwörterbücher, und es ist nach wie vor ein unentbehrliches Nachschlagewerk für viele Fragen zu Sprache und Wortkunde.
Zweifellos zählt der am 6. August 1785 in Tirschenreuth als Sohn eines Kürbenzäuners geborene Schmeller zu den herausragenden Gestalten des 19. Jahrhunderts. Als er noch ein Kleinkind war, übersiedelte die Familie nach Rimberg (Kreis Pfaffenhofen an der Ilm). Bereits sein Dorfschullehrer erkannte die große Begabung des Buben. Sein weiterer Lebensweg führte ihn über das Gymnasium in Scheyern nach Ingolstadt und München. Als Soldat in einem Regiment, das in spanischen Diensten stand, marschierte er jahrelang durch halb Europa, er kämpfte in den Freiheitskriegen mit und zog 1815 als Oberleutnant mit der Königlich Bayerischen Armee in Paris ein.
Die Jugend in verschiedenen bayerischen Gegenden, das Leben im Ausland und die vielen Ortswechsel als Soldat dürften Schmellers Ohr geschärft haben für die sprachlichen Nuancen, vermutet der Dialektologe Ludwig Zehetner. Nach seiner Rückkehr wurde Schmeller damit betraut, die Mundarten des Königreiches Bayern grammatikalisch und lexikalisch zu sammeln und zu bearbeiten, so trug es ihm der Kronprinz Ludwig, der spätere König Ludwig I., auf. 1816 wurde er deshalb aus dem Militärdienst beurlaubt.
Schmellers Tagebücher und Briefe legen Zeugnis von seinem überragenden Geist ab. Sein wissenschaftliches Werk ist in seiner Fülle kaum zu fassen. In der Kgl. Hof- und Staatsbibliothek katalogisierte er in wenigen Jahren die gut 25 000 Handschriften, die im Zuge der Säkularisation aus ganz Bayern nach München gebracht wurden. Das System, das Schmeller dafür entwickelte, gilt als geniale bibliothekarische Leistung. In diese Zeit fallen auch seine Ausgaben altdeutscher Texte (wie der Carmina Burana). Es sind Pionierleistungen der Germanistik, als deren Begründer Schmeller neben den Brüdern Grimm gilt.
Schmeller war ein Kind der Aufklärung, in der die Sprache erstmals wissenschaftlichen Rang erhielt. Die Erforschung der Dialekte betrachtete Schmeller als ein nationales Anliegen. Es war typisch für ihn, dass er sich beispielsweise tagelang in der St. Gallener Stiftsbibliothek einschloss und akribisch 1000 Jahre alte Schriften abschrieb, um damit Zugang zu einzigartigen Wörtern zu erhalten. Auch auf vielen Wanderungen quer durch Bayern sammelte er Belege, indem er die Menschen befragte, etwa zu Wörtern, die sie in der Landwirtschaft und im Handwerk verwendeten.
Sein Wörterbuch, das bis heute als "Der Schmeller" bezeichnet wird, erweckt den Anschein, es sei das Werk einer vielköpfigen Mannschaft, dabei schuf er es ganz allein. Es umfasst die Fülle der damaligen Amts-, Bürger- und Bauernsprache, sowohl den Wortschatz und den Lautstand als auch Herkunft und Varianten. Ihm ging es aber nicht nur um das lexikografische "Gesottschneiden", wie er selber sagte. Man kann das Werk aufschlagen, wo man will, "jede Seite strotzt von Wissen, Anschaulichkeit und Leben", wie es der Historiker Benno Hubensteiner formulierte.
Mit seiner Grammatik, in der er den Dialekt als ein sich geschlossenes Sprachsystem darstellt, beginnt eine breite Beschäftigung mit den Mundarten, die bis heute andauert. Nur dass das Thema jetzt begleitet ist von lauten Grundsatzdebatten. Während die einen das Ende der Dialekte herannahen sehen und sie um jeden Preis bewahren wollen, können die anderen weder damit noch mit den Werken Schmellers irgendetwas anfangen.