Soll sich der Freistaat stärker einmischen in die Aufarbeitung von Missbrauch? Das war die zentrale Frage einer Expertenanhörung im Rechtsausschuss des Landtags. Im Fokus waren am Donnerstag, wieder einmal, die beiden großen christlichen Kirchen. Ja, der Staat sollte mehr tun. Das ist nicht einhellige Meinung, aber doch der Tenor der dreieinhalbstündigen Befragung, die die Grünen beantragt hatten. Bleibt die Frage nach dem Wie: Mit einer bayerischen Aufarbeitungskommission? Drei Professoren sprechen sich dafür aus, wobei ein solches Gremium neben den Kirchen auch andere Institutionen wie Sportvereine im Blick haben müsse.
"Warum hat der Staat so lange zugeschaut?" Diese Frage stellt Heiner Keupp, Sozialpsychologe und Mitglied der Aufarbeitungskommission des Bundes. "Das Kirchenversagen ist immer auch ein Staatsversagen." Der Staat sei seiner Verantwortung für das Kindeswohl nicht gerecht geworden: "Warum haben die nicht eingegriffen?" Keupp sagt, es brauche auf Landesebene eine Aufarbeitungskommission, sie müsse interdisziplinär besetzt sein, über ausreichend Personal verfügen, und es sollte ihr ein landesweiter Betroffenenbeirat zugeordnet sein. Die vom Sozialministerium angekündigte Lotsenstelle für Betroffene sei gut, genüge aber nicht. Keupp sieht Südtirol als Vorbild, wo der Staat sich stärker engagieren will: "Wenn das kleine Südtirol es schafft, sollten wir es auch schaffen."
"Wir brauchen eine Art Wahrheitskommission"
An seiner Seite hat Keupp den Passauer Strafrechtsprofessor Holm Putzke: "Wir brauchen eine Art Wahrheitskommission." Als "menschenverachtend" kritisiert er die jahrzehntelange Vertuschung in der katholische Kirche. "Jetzt muss der Staat eingreifen!" Das Gremium brauche "ein robustes Mandat", um Zeugen befragen und Akten anfordern zu können, ähnlich einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss.
Auch Stephan Rixen, Staatsrechtler an der Uni Köln, plädiert für eine staatliche Intervention. Sie würde weder die Kirchen aus ihrer Verantwortung entlassen noch bereits eingerichtete Kommissionen überflüssig machen, sondern diese ergänzen. Eine Landeskommission müsse Standards setzen und ein "Monitoring" der in diversen Institutionen laufenden Aufarbeitungen gewährleisten.
Es ist vor allem die CSU-Abgeordnete und Vorsitzende des Rechtsausschusses, Petra Guttenberger, die Bedenken anmeldet: Nutze den Betroffenen eine staatliche Kommission? Und welche Rechtsgrundlage habe sie überhaupt? Der Rahmen müsse natürlich gesetzlich geschaffen werden, sagt Rixen. Und auch ohne staatsanwaltliche Befugnisse könne eine staatliche Kommission mit "weichen" Werkzeugen etwas bewegen: "Öffentlichkeit spielt dabei eine große Rolle." Und ja, sagt Rixen, er sei überzeugt, dass Betroffene etwas davon hätten, schließlich sei Aufarbeitung weit mehr als Strafverfolgung: Betroffene wollten gehört werden und verstehen, warum ihnen widerfahren ist, was ihr Leben so sehr prägt.
Die bisherige Rolle des Staates bei der Aufklärung von Missbrauch wird auch diskutiert, genauer: die der bayerischen Justiz. Wieder ist es Putzke, der in Passau in der CSU aktiv ist, der am deutlichsten wird: Die Justiz habe über Jahre offenbar "Beißhemmungen" gehabt im Umgang mit kirchlichen Beschuldigten. Für "zwingend" hält er eine staatliche Untersuchung, um den entstandenen Eindruck einer "Sonderbehandlung" zu klären. Auch das Agieren der Staatsanwaltschaft im Kontext des jüngsten Münchner Missbrauchsgutachtens kritisiert Putzke. Als die Erzdiözese 2020 ankündigte, einer Anwaltskanzlei Missbrauchs-Akten zur Verfügung zu stellen, hätte die Staatsanwaltschaft nicht abwarten dürfen, bis die Anwälte die Unterlagen auswerteten und an die Ermittler weiterreichten. Sie hätte sie sich sofort beschaffen müssen, "das ist die heilige Pflicht der Staatsanwaltschaft".
Am Tag nach der Anhörung betont das Justizministerium in einer Stellungnahme an die SZ, dass die Staatsanwaltschaft sich noch vor Veröffentlichung des Gutachtens von der Kanzlei Unterlagen habe geben lassen. Auch in anderen bayerischen Bistümern lasse sich die Staatsanwaltschaft relevante Dokumente "frühzeitig" weiterleiten.
Die Kinderbeichte muss reformiert werden
Reinhard Röttle, Münchner Generalstaatsanwalt, geht auf diesen konkreten Vorwurf des Professors im Kontext des jüngsten Gutachtens nicht ein. Selbstkritik übt er nicht, mit einer Ausnahme: Die Ermittler hätten sich das erste Münchner Missbrauchsgutachten von 2010 sofort und nicht erst 2019 beschaffen müssen. Röttle sagt, er orientiere sich am "gesetzlichen Auftrag" der Staatsanwaltschaft. Um ihn gut umzusetzen, brauche es unter anderem engagiert ermittelnde Menschen. Diese im Blick verwahrt er sich gegen den Vorwurf der Nachsicht gegen kirchliche Täter. Niemand in der Staatsanwaltschaft habe eine "heilige Ehrfurcht" vor Kirchenleuten. Eine Untersuchung des Verhältnisses der bayerischen Justiz zur Kirche sei nicht nötig.
Eine deutliche Schutzlücke sieht Röttle in den Gesetzen. Dass man Personalverantwortliche, etwa Bischöfe, die durch Untätigkeit oder Vertuschung weiteren Missbrauch ermöglichten, so gut wie nie strafrechtlich belangen könne, sei ein Problem. Man müsste ihnen Vorsatz nachweisen. Es wäre gut, wenn der Nachweis von grobem Fehlverhalten im Umgang mit einem Priester ausreiche, um die Verantwortlichen zu sanktionieren. Die Staatsregierung hat 2022 eine entsprechende Gesetzesverschärfung vorgeschlagen.
Strafrechtler Putzke setzt mit einer Forderung den Schlusspunkt: Er sieht die Kinderbeichte als großes Risiko. Buben und Mädchen werden im Alter von meist neun Jahren zur Beichte geschickt. Das löse nicht nur oft Angst aus, die Erfahrung zeige, dass Missbrauchstäter die Beichte oft zur "Tatanbahnung" genutzt hätten. Hier müsse der Staat mit seiner Schutzpflicht aktiv werden, sagt Putzke. Er müsse bei der katholischen Kirche durchsetzen, dass die Beichte zum Schutz der Kinder modifiziert werde. Lasse sich die Kirche darauf nicht ein, müsse der Staat die Kinderbeichte notfalls verbieten.