Süddeutsche Zeitung

Mitten in Bayern:Vom (un)gesunden Menschenverstand

Er wird gerne bemüht, wenn eigene Weisheiten unters Volk zu bringen sind und weiterreichende Argumente fehlen. Eine Taktik, die auch Hubert Aiwanger nicht fremd ist.

Glosse von Maximilian Gerl

Hubert Aiwanger wünscht sich bekanntlich mehr gesunden Menschenverstand in der Politik; aktuell wirbt er darum, mehr davon nach Berlin zu schicken. Nun hat der Vize-Ministerpräsident und Chef der Freien Wähler definiert, was er darunter versteht. "Lebenserfahrung und Vernunft", sagte er dem Tagesspiegel - und schob nach, dass die Grünen "keine Gleichberechtigung, sondern Mobbing gegen Männer" praktizierten. Ein paar Tage zuvor wollte Aiwanger eine "Apartheidsdiskussion" über eine Corona-Impfpflicht vermeiden. Wieder ein paar Tage zuvor wusste er bei der Bild, dass Frauen bei der Besetzung von politischen Posten bevorzugt würden.

Natürlich darf und kann man alles so sagen, wie es Aiwanger gerne und häufig macht. Zum Glück herrscht in Bayern Meinungsfreiheit. Aus gleichem Grund darf und kann man seine Aussagen als intellektuelle Hohlphrasen betiteln: Sie machen zwar politisch Stimmung, gründen aber auf Selbstüberschätzung. Denn mit dem gesunden Menschenverstand ist es leider so eine Sache. Oft leitet er uns richtig, warnt uns zum Beispiel davor, auf dünnes Eis zu spazieren und in den See einzubrechen. Doch oft führt er uns gehörig in die Irre.

Früher sagte der gesunde Menschenverstand, dass die Erde eine Scheibe ist und sich Eisenbahnen so schnell fortbewegen, dass Frauen der Uterus im Leibe verrückt. Kurz: Der gesunde Menschenverstand lässt uns Menschen gerne im Stich, sobald es um Wissenschaft, Fakten, Neues und anderes kompliziertes Zeug geht. Das ist schade. Ja, oft erkennt man nicht mal, dass man einem Irrtum aufsitzt. Niemand ist gefeit, Opfer seines Verstandes zu werden.

Aiwanger befindet sich also in bester Gesellschaft, wenn er seine Politik auf gesunden Menschenverstand stützt. Der ist gerade in seinem Metier beliebt: Er musste schon gegen Tempolimits (Andreas Scheuer) oder für das Recht auf Selbstbewaffnung (Donald Trump) herhalten. Der Politiker und Literat François de La Rochefoucauld soll einst sogar beobachtet haben, dass man fast niemandem gesunden Menschenverstand zutraue - außer dem, "der unserer Meinung ist". So gesehen wird der gesunde Menschenverstand vor allem dann bemüht, wenn andere Argumente fehlen. Das sagt zumindest der gesunde Menschenverstand.

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SZ vom 20.07.2021/syn, van
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