Engpässe bei Arzneimitteln:Nicht lieferbar

Engpässe bei Arzneimitteln: "Wir verwalten den Notstand", sagt die Apothekerin Anneli Patzak-Nenninger aus Landau an der Isar.

"Wir verwalten den Notstand", sagt die Apothekerin Anneli Patzak-Nenninger aus Landau an der Isar.

(Foto: Dietrich Mittler)

268 Medikamente sind derzeit laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte nur eingeschränkt erhältlich. Für Patienten, die unter lebensbedrohlichen Krankheiten leiden, kann das verheerende Folgen haben.

Von Dietrich Mittler und Lisa Schnell

Leukämie und Prostatakrebs - allein schon diese Diagnose würde vielen Patienten jeglichen Lebensmut nehmen. Klaus Albertshofer kämpft seit nunmehr zwei Jahren gegen diese Erkrankungen an. Dazu braucht er auch das Medikament Nilotinib - nur, wie lange erhält er das noch im Handel? Die Frage quält ihn. "Wenn ich das nicht mehr bekomme, geht es mit mir dahin", sagt er. Natürlich ist da auch viel Angst im Spiel. Aber Ärzte haben ihm klargemacht: Die kleinste Unterbrechung bei der Chemotherapie würde ihn das Leben kosten. "Ich bin also abhängig von dem Zeug", sagt Albertshofer. Bei dem Blutdrucksenker Candesartan, den er ebenfalls einnehmen muss, ist der Markt nahezu leergefegt.

Der 61-jährige ehemalige Tankstellenbesitzer, der bei Landau an der Isar eigentlich in Ruhe seinen Lebensabend genießen wollte, weiß: Er ist nicht der einzige, dem es so geht. Seit vielen Jahren flößt der Medikamentenmangel schwerkranken Menschen immer wieder Furcht ein. Auch Herz-Kreislauf-Patienten, psychisch Kranke, Diabetiker, Epilepsie-Patienten, Allergiker und Schmerzgeplagte laufen mittlerweile von Apotheke zu Apotheke, um noch an die vom Arzt verschriebenen Medikamente zu kommen.

"Tendenziell verschlechtert sich die Lage derzeit wieder", sagt Hans Peter Hubmann, der Vorsitzende des Bayerischen Apothekerverbands. 2013 wurden 42 Fälle von Lieferengpässen gemeldet. Aktuell verzeichnet das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte Probleme bei 268 Medikamenten - die Impfstoffe gar nicht eingerechnet.

Klaus Albertshofer hat keine Zeit, ruhig abzuwarten, bis sich die Situation auf dem Medikamentenmarkt entspannt. Zumal womöglich die Coronavirus-Epidemie in China die Lieferung wichtiger Rohstoffe zur Medikamentenherstellung bereits in naher Zukunft beeinträchtigen könnte. "Hallo, für mich geht es hier um Leben und Tod", sagt Albertshofer. Überall sucht er nach dem Mittel, das ihm das Leben retten könnte. Geld spielt dabei keine Rolle. "Das, was da ist, kauf ich auf - fertig", sagt er.

Zehn Prozent

ihrer Arbeitszeit investiert die Mehrheit der Apotheker in Gespräche mit Großhändlern, Ärzten und Patienten, um bei Lieferschwierigkeiten nach Lösungen zu suchen. Zumeist handelt es sich dabei um Schmerzmittel, Blutdrucksenker, Säureblocker, Antidepressiva. 91,2 Prozent der Apotheker bezeichnen die Lieferengpässe als größtes Ärgernis im Berufsalltag.

Doch damit allein gibt er sich nicht zufrieden. Er will die packen, die aus seiner Sicht Mitverantwortung am Medikamentenmangel tragen. Albertshofer hat bei der Staatsanwaltschaft Berlin Strafanzeige gestellt - gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn. Die beiden CDU-Spitzenpolitiker seien verantwortlich für die Gesundheitsversorgung, aber sie erfüllten ihren Sicherstellungsauftrag nicht, sagt Albertshofer. Der Vorwurf lautet daher auf versuchte Körperverletzung durch Unterlassen (Aktenzeichen 276 Js 20/20).

"Im Hinblick auf die Lebensbedrohung wäre auch denkbar, dass der Straftatbestand des versuchten Totschlags durch Unterlassung erfüllt ist", betont Albertshofers Anwalt Josef Moosmeier, der in Landau seinen Sitz hat. Die Staatsanwaltschaft Berlin lehnte es jedoch kürzlich ab, strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten. Dagegen hat Moosmeier bei der Generalstaatsanwaltschaft Beschwerde eingelegt. "Erfahrungsgemäß lehnen Staatsanwaltschaften solche Ermittlungen ab. Das wissen wir, aber wir verstehen diese Strafanzeige eher als politischen Impuls", sagt er.

Nach 20 Jahren ist die Angst wieder da

"Wie kann es in einem Land wie Deutschland passieren, dass ein Wirkstoff nicht vorhanden ist?" Barbara Daumann sitzt an ihrem Küchentisch, eine freundliche Frau, die sofort Kaffee anbietet oder Gulaschsuppe und die eigentlich sehr leise spricht. Nicht jetzt. Sie redet von Jens Spahn, dem Gesundheitsminister. Wenn sie den nur sehe! "So einen Hals krieg' ich da!", sagt Daumann.

Sie ist 52 Jahre alt, seit 30 Jahren hat sie die Diagnose Epilepsie. Dreimal am Tag braucht sie eine Tablette, Lamictal - kleine, weiße Pillen, die Ecken abgerundet, in einem Aluminium-Blister. Was passiert, wenn sie die nicht hat? Daumann hebt ihre Fäuste, bewegt sie schnell hin und her, ihr ganzer Körper wackelt. Sie presst die Augen fest zu. So ist es, wenn sie krampft, wenn sie Schaum vorm Mund bekommt, auf den Boden fällt. Was dann passiert, sieht man in ihrem Gesicht: An der linken Schläfe hat sie eine kleine Narbe.

Bis jetzt hatte Daumann Glück. Sie krachte nur beinahe an die scharfe Kante der Heizung, sie krampfte nicht beim Autofahren, sie fiel nicht mit dem Kopf nach unten in eine Pfütze. Gut 20 Jahre hat sie an all die Horrorszenarien nicht mehr gedacht. Gut 20 Jahre hat sie ihr Lamictal. Jetzt ist die Angst wieder da. "Nicht lieferbar", sagte ihr die Apothekerin im Oktober 2018. Wie lange? Konnte sie nicht sagen. Es verging eine Woche, zwei, drei. Daumanns Tabletten wurden weniger, sie nervöser. "Eine Mischung aus Unruhe und Panik", sagt sie. Jeden Tag checkte sie ihr Handy: keine Nachricht von der Apotheke. Jeden Tag zählte sie ihre Tabletten, sah, wie der Vorrat in ihrem Küchenschrank schrumpfte. Die vierte Woche verging, die fünfte. "Da bibbert man", sagt Daumann. Wegen des Schaums vorm Mund, aber auch deswegen, was danach kommt. Ein Jahr lang dürfte Daumann nicht arbeiten, nicht Auto fahren.

Auch wenn sie ihr Leben nicht verliert bei einem Anfall, ihre Freiheit verliert sie auf jeden Fall. Daumann wohnt in Redwitz an der Rodach in Oberfranken. Wer bei ihr aus dem Küchenfenster blickt, sieht einen 75 Jahre alten Walnussbaum, die alte Scheune und sonst nur Felder, Nebel und Strommasten wie schwarze Striche am Himmel. "Sozial isoliert", so sei das bei ihnen ohne Auto. Sie liebe ihre vier Katzen, sagt Daumann, vor allem den "Krümel". Aber sie brauche eben auch Menschen.

Irgendwann hatte sie nur noch 42 Tabletten, drei schmale Packungen, noch zwei Wochen. Und dann? Dann kam er endlich, der Anruf - nach vier Monaten. Daumann spürte großes Glück, kurz, und dann wieder: Stress und Sorgen. Wegen der Medikamente und wegen ihrer Kinder. Sie hat einen Sohn sowie eine Tochter. Am Kühlschrank hängt ein Bild von ihr. Das Lachen hat sie von der Mutter. Ihre beiden Kinder leiden unter Epilepsie. Der Große macht eine Schreinerlehre, hat die Finger an der Säge. Daumann will gar nicht daran denken, was passiert, wenn er einen Anfall bekommt. Bis vor Kurzem musste sie das auch nicht. Dann aber ging sie in die Apotheke mit seinem Rezept - und es hieß: "Leider aus."

"Wir haben das Heft nicht mehr in der Hand", schrieb Doris Uhl, die Chefredakteurin der Deutsche Apotheker Zeitung, bereits 2013 zum Problem des Medikamentenmangels - in dem Jahr also, in dem vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte die freiwilligen Meldungen der Pharmaindustrie zum Medikamentenmangel erstmals dokumentiert wurden. Bayerns Apotheker würden unter Uhls Aussage auch jetzt ihre Unterschrift setzen. Anneli Patzak-Nenninger, die in Landau die Johannis- und die Sebastiani-Apotheke betreibt, sagt: "Bei fast jedem zweiten Patienten müssen wir alle Großhändler oder Hersteller anrufen, bis wir etwas bekommen." Nur zu oft aber gibt es nichts. "Die klassischen Blutdrucksenker - Candesartan und Valsartan - sind knapp, gar eine Katastrophe für die Patienten ist der Mangel an Venlafaxin zur Therapie von Depressionen sowie von Angst- und Panikstörungen", sagt Verbandschef Hubmann.

Doch was sind die Ursachen des Mangels? Hubmanns Stellvertreter Josef Kammermeier nennt als erstes: "ungeschickte Lösungen der Kassen im Rabattvertrags-Bereich, die dazu führten, dass die Industrie die Rohstoff-Produktion nach Südostasien verlagert hat." Komme es da etwa wegen Verunreinigungen zu Lieferausfällen, so gerate weltweit die Medikamentenproduktion ins Stocken. Zudem: Die Rohstoffe und fertigen Produkte landeten verstärkt in Ländern, die mehr Profit versprechen - und dazu gehört Deutschland längst nicht mehr.

Am Donnerstag will der Bundestag in einer abschließenden Lesung Regelungen zur Bekämpfung von Lieferengpässen verabschieden. Von den Vorschlägen der Apotheker, der Praktiker also, findet sich laut Josef Kammermeier wenig wieder. Krebspatient Klaus Albertshofer hat dafür kaum Worte. "Es ist brutal, was da abgeht", sagt er. Klar, dass er weiterkämpft.

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