Süddeutsche Zeitung

Bildung in Bayern:Matheschwäche gilt heute beinahe als Verdienst

Ein Zeugnis erhalten auch jene, die lediglich den Taschenrechner bedienen können. Früher hätte man sich das nicht leisten können.

Kolumne von Hans Kratzer

Früher hat man es sich gar nicht leisten können, im Kopfrechnen ein Schwächling zu sein. Wer die Zahlen nicht beherrschte, wurde beim Viehhandel oder beim Kartenspiel nach allen Regeln der Kunst ausgeschmiert. Erst der Taschenrechner brachte ein seltsames Umdenken mit sich. Seitdem brüsten sich sogar Akademiker mit ihrer Unkenntnis, eine Mathematikschwäche gilt nun als Auszeichnung. Kein Wunder, dass auch die Schulmathematik unter diesem Blödsinn leidet.

Die Anforderungen im Unterricht sanken in den vergangenen Jahren stetig, das Kopfrechnen kam aus der Mode. Das Abiturzeugnis erhalten nun auch jene, die lediglich den Taschenrechner bedienen können. Was waren das für Zeiten, als man bayerische Gymnasiasten getrost auf die Technische Universität schicken konnte. Heute werden dort in manchen Studiengängen Durchfallerquoten von 80 Prozent verzeichnet. Und das, obwohl mittlerweile ein Drittel der Abiturienten einen Einserschnitt vorweisen kann.

Dieser Zustand ist absurd und nährt den Verdacht, als sei die mathematische Handlungsfähigkeit der Schüler durch Stundenkürzungen, Stoffverdichtung und methodische wie didaktische Irrlichterei stark geschwächt worden. Der Stoff wird zwar geschwind ins Hirn gepresst, aber kaum geübt und gefestigt, weshalb er ebenso schnell wieder vergessen wird. Eine Transferaufgabe wie bei der diesjährigen Abiprüfung provoziert schnell eine Überforderung. Den Schülern fehlen dann wohl die Werkzeuge, um komplexe Fragen auf die Schnelle zu beantworten.

Das Fach Mathematik wurde im Gymnasium nach und nach auf ein unteres Grundkursniveau heruntergedimmt. Es ist schon längst kein Angstfach mehr, was aber auch die populäre Meinung stärkte, es bedürfe in dieser Disziplin keiner größeren Anstrengung mehr. In der Mathematik aber ist es wie im Sport und in der Musik. Sich über Wasser zu halten, kostet Schweiß und Disziplin. Es bedarf einer guten Anleitung, aber auch ständiger Übung. Vielleicht macht ja den unter dem aktuellen Mathematik-Abi leidenden Abiturienten der spanische Cellist Pablo Casals Mut, der noch mit 93 täglich fünf Stunden Cello spielte. "Warum?" wurde er gefragt. Er sagte: "Ich habe den Eindruck, ich mache Fortschritte."

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Quelle:
SZ vom 07.05.2019/vewo
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