Je unübersichtlicher eine Situation ist, desto stärker ist der Wunsch vieler nach einer Struktur, die das Problem fassbar macht. Oder eine konkrete Größe liefert für Schuldzuweisungen. Auch das ist so ein menschlicher Impuls, einer muss ja schuld sein an der Misere. Diese Impulse lassen sich seit Wochen in Bayerns Bildungslandschaft beobachten: Das Rufen nach Zahlen zum Lehrermangel wird immer lauter. Und Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) weigert sich, Zahlen zu liefern. Es sei "unredlich", sie könnten am nächsten Tag schon wieder falsch sein.
Will Piazolo allerdings Vorwürfe entkräften, setzt er - natürlich - auf Zahlen. Ein Auszug: 4630 Stellen wurden allein in dieser Legislaturperiode geschaffen, in diesem Schuljahr gibt es erstmals mehr als 100 000 Lehrer in Bayern, davon 4300 neu eingestellt. Nur reicht es halt nicht bei 1,7 Millionen Schülern.
Vor dem ersten Schultag sprach Piazolo von "Hunderten" Lehrern, die fürs neue Schuljahr fehlten. Genauer konnte er es nicht sagen. Das war Anfang September. Die Lage an den Schulen nannte er "solide". Konkreter wurde es seither nicht. "Solide" gilt noch immer. Die Personalsituation sei aber besser als zu Schuljahresbeginn, teilt das Kultusministerium nun mit. Was das genau bedeuten soll? Bleibt offen.
Die Erklärungsversuche aus dem Ministerium gehen so: Eine Zahl zu nennen, ergebe keinen Sinn, zu dynamisch sei die Situation. Und diese Schwankungen seien normal. Lehrkräfte würden schwanger, krank oder seien wieder genesen, Verträge werden neu geschlossen. Die Schwankung könne bei 100 000 Pädagoginnen und Pädagogen täglich in die Hunderte gehen, heißt es.
Wenn Kritiker selbst Zahlen zusammensuchen, kommen stets Werte heraus, die das Kultusministerium scharf kritisiert: Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband nannte eine Lücke von 4000 Pädagogen. Die SPD-Landtagsfraktion kam jüngst in einer Studie auf gut 2000 für das Jahr 2021. Diese Differenz ergebe sich aus der Lücke zwischen fertig ausgebildeten Referendaren und tatsächlich eingestellten Lehrern. Bayern stelle mehr Pädagogen ein als es ausbilde. Quelle sei die Meldung des bayerischen Kultusministeriums an die Kultusministerkonferenz.
Man wolle "anscheinend Berliner Verhältnisse"
Die Studie der SPD liefere "keinerlei zielführende Ergebnisse", monierte Piazolos Haus daraufhin. Man wolle "anscheinend Berliner Verhältnisse" in Bayern herbeiführen. "Das lehnen wir strikt ab." Der Autor der Studie war in Berlin Staatssekretär für Schulpolitik. Beflügelt von Bildungsranglisten schaut Bayern aber höchstens zum Naserümpfen nach Berlin. Die 4000 des BLLV nannte Piazolo Mitte September eine "ganz interessante Rechnung" und zerpflückte sie als Rechenkonstrukt. Sein Rat: "Ich empfehle sehr, die Zahlen anzuschauen, gerade wenn sie so pauschal und so hoch sind."
Ein Ausweg aus diesem Tänzchen könnte dort liegen, wo Lehrer arbeiten, nicht wo sie fehlen. Laut internen Unterlagen der Regierung von Oberbayern sollen derzeit an Bayerns Grundschulen 61 061 Lehrer und Lehrerinnen in Teilzeit arbeiten und 12 153 an Mittelschulen. Viele davon arbeiten unterhälftig, also mit weniger als 50 Prozent. Das ergibt demnach einen "Verlust" von 2631 sogenannten Vollzeitkapazitäten. Würden einige dieser Lehrer aufstocken, wäre den Grund-, Förder- und Mittelschulen schon geholfen. Sie sind am schlimmsten vom Lehrermangel betroffen. Nur, diese Pädagogen werden wohl Gründe haben für den Teilzeitwunsch und sie wurden schon Anfang 2020 zur Mehrarbeit verdonnert. Per Dienstanweisung vom Minister, die Aufregung war enorm. So weit wollen jetzt weder Piazolo noch Ministerpräsident Markus Söder gehen, es bleibt bei Appellen. An einer Neuauflage der Lehrerwut haben beide im Jahr vor der Landtagswahl kein Interesse. Wenn sie Zwang scheuen, bleibt nur zu locken.