Das Kultusministerium geht gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH) zur Mehrarbeit an Grundschulen vor. Am 12. November war die Entscheidung der Richter öffentlich geworden, wonach die zusätzliche wöchentliche Unterrichtsstunde, die fast alle bayerischen Grundschullehrkräfte seit vier Jahren leisten, rechtswidrig ist. Unter anderem damit hatte der frühere Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) versucht, dem Lehrermangel beizukommen.
Eine Revision ließen die Richter des dritten Senats nicht zu. Die Staatsregierung hatte vier Wochen Zeit, dagegen Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht einzulegen. Diese Frist würde an diesem Mittwoch ablaufen. Nun hat das Kultusministerium die Landesanwaltschaft darum gebeten, Beschwerde einzulegen. Damit ist das VGH-Urteil nicht rechtskräftig. Und die Antwort auf die brennende Frage an allen Grundschulen, was denn nun passiert mit den geleisteten Stunden, bleibt weiter unbeantwortet. Die Lehrerinnen und Lehrer werden sich wohl bis weit ins neue Jahr hinein gedulden müssen.
Denn, verkürzt gesagt, verschafft sich das Kultusministerium mit diesem juristischen Schritt vor allem mehr Zeit. Grundsätzlich scheinen die Juristen im Kultusministerium den Richterspruch nämlich zu akzeptieren, so kann man den folgenden Satz der Mitteilung verstehen: „Selbstverständlich respektieren wir das Urteil des VGH, nehmen die Anregungen in der Urteilsbegründung gerne auf und arbeiten daran, ein Arbeitszeitkonto unter Beachtung der entsprechenden gerichtlichen Hinweise neu aufzusetzen.“
Aber um ein neues Arbeitszeitkonto aufzusetzen, das rechtssicher ist, und alle von den VGH-Richtern aufgeworfenen Fragen berücksichtigt, brauchen die Fachabteilungen diese Zeit offenbar. Und genau dieses Hintertürchen hatten die VGH-Richter dem Kultusministerium im Urteilsspruch zum Normenkontrollverfahren auch geöffnet. Das Arbeitszeitkonto an sich war nicht das Problem, das Prozedere ist etabliert.
Um den Lehrermangel an Bayerns Grund-, Mittel- und Förderschulen zu mildern, hatte der frühere Minister Piazolo verfügt, dass fast alle Grundschullehrerinnen und -lehrer in Bayern pauschal eine Stunde mehr pro Woche unterrichten sollen. Dafür wurde ein Arbeitszeitkonto an den 2418 bayerischen Grundschulen eingeführt. Eine Lehrerin in Vollzeit muss zum Beispiel seit 2020 übergangsweise 29 Stunden pro Woche unterrichten statt wie üblich 28. Das galt als Ansparphase, von 2025 an dürfen die Lehrkräfte drei Jahre lang die gewohnten 28 Stunden unterrichten, bevor von 2028 an nur 27 Stunden Unterricht nötig sind, um das wieder auszugleichen.
Das Problem für die Richter war unter anderem, dass man im Kultusministerium zwar alle Grundschullehrkräfte eine Stunde mehr unterrichten ließ, aber offen in der Kabinettsvorlage damit rechnete, auf diesem Weg, auch Lücken an den Mittel- und Förderschulen stopfen zu können. Dadurch würden die Grundschullehrkräfte „einseitig und gleichheitswidrig in Anspruch genommen“, heißt es im VGH-Urteil. Zugleich störte sich die Kammer daran, dass mit Zahlen aus dem Vorjahr argumentiert worden war, obwohl aktuellere Daten bereits vorlagen.
Schulen in Bayern:Lehrkraft m/w/d dringend gesucht
An bayerischen Schulen droht massiver Personalmangel – und das nicht erst in ferner Zukunft. Die Mittelschulen kämpfen schon seit Jahren mit wenig Begeisterung für ihre Stellen. Doch sogar in den Gymnasien könnte es bald knapp werden.
Während im Rahmen des sogenannten Piazolo-Pakets für Grund-, Mittel- und Förderschulen auch das Sabbatjahr gestrichen, das Mindestalter für vorzeitigen Ruhestand angehoben und eine höhere Mindestarbeitszeit für Teilzeit eingeführt worden war, wirkt das Arbeitszeitkonto allein für die Grundschulen.
Wer nun das Chaos an den Grundschulen befürchtet, sei beruhigt: Solange das Urteil nicht rechtskräftig ist, gilt die alte Verordnung. Und auch der Bayerische Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV), der die klagende Schulleiterin im Normenkontrollverfahren unterstützt hatte, versichert, dass die Lehrkräfte nicht kollektiv den Stift fallen lassen werden. Kurz gesagt, passiert also erst einmal gar nichts.
Das ist ein großes Problem. Denn das größte Problem an Bayerns Schulen, der Lehrermangel, bleibt weiter bestehen und könnte sich durch das VGH-Urteil sogar verschärfen. Die Lösungssuche läuft deshalb drei Fronten weiter: Erstens sollen die Fachabteilungen nun ein rechtssicheres Arbeitszeitkonto erarbeiten, das laut VGH sogar rückwirkend gelten könnte. Damit will man vermeiden, dass auf einen Schlag Tausende Überstunden abgefeiert werden und an den Grundschulen reihenweise Stunden ausfallen. Die zweite Front ist der Versuch der Kultusministerin Anna Stolz (FW), gemeinsam mit den Vertretern aller Lehrerverbände, der Eltern und Schüler eine „große“ Lösung für das VGH-Urteil und den grundsätzlichen Lehrermangel in allen Schularten zu finden. Dies gilt als letzter Versuch, auf freiwilliger Basis mit Appellen Lehrkräfte in Teilzeit dazu zu bringen, aufzustocken. Während man sich im Ministerium „zuversichtlich“ gibt, „im Einklang mit der Schulfamilie“ zu einer „tragfähigen und rechtssicheren Lösung zu kommen“, fordert der BLLV die Rückabwicklung des Piazolo-Pakets.
Gelingt der Spagat zwischen diesen Positionen nicht, könnte die dritte Front, eine weitere Anordnung „von oben“, folgen. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hatte immer wieder öffentlich darüber nachgedacht, die Teilzeitregelungen einzuschränken. Dazu gab es schon sehr konkrete Hinterzimmergespräche. Bisher gelang es Ministerin Stolz aber, dies zu verhindern. Sie war Staatssekretärin, als Piazolo seine Mehrarbeit anordnete und kennt eine Folge daraus: Zwang kann nach hinten losgehen. Der Anteil jener Lehrer, die sich dienstunfähig meldeten oder frühzeitig in den Ruhestand gingen, stieg damals jedenfalls deutlich an.