Süddeutsche Zeitung

Telefonberatung:"Krisen richten sich nicht nach der Uhrzeit"

Unterstützung per Telefon: Von nun an können sich Menschen in seelischen Krisensituationen sowie deren Angehörige landesweit beraten lassen - Tag und Nacht.

Von Dietrich Mittler

Silvia Haberkern vom Krisendienst Mittelfranken weiß, dass für die Person am anderen Ende der Telefonleitung gerade eine Welt zusammenbricht. Die Frau, die in ihrer Not und Verzweiflung die Nummer 0800/655 3000 gewählt hat, steht mitten im Leben: Kind, berufstätig - alles schien in Ordnung zu sein. Doch nun kommt sie nach Hause, und der Mann ist weg. Kein Lebenszeichen, nichts, einfach weg. "Es war so, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen", beschreibt Haberkern die Gefühlslage der Anruferin. Was sie selbst nun tun kann? Zunächst einmal einfach zuhören, die Gefühlsschwankungen aushalten, stabilisieren. Die Frau weint, fällt in tiefes Schweigen - Silvia Haberkern erkennt, es geht nun darum, dieser Anruferin Wege aufzuzeigen, wo sie Hilfe findet, "sich selbst eine Struktur zu geben, an der sie sich langhangeln kann, wieder zu sich selber finden kann".

Von diesem Donnerstag an können sich Menschen in seelischen Krisensituationen sowie auch ihre Angehörigen oder Partnerinnen und Partner landesweit rund um die Uhr Beistand holen. Wenn sie die einheitliche Nummer der Krisendienste wählen, werden sie direkt mit jener Leitstelle verbunden, die für ihre jeweilige Region zuständig ist.

"Krisen richten sich nicht nach der Uhrzeit", sagt Franz Löffler (CSU), der Präsident des Bayerischen Bezirkstags, der aus seiner Freude über den Ausbau des flächendeckenden Krisendienstangebotes kein Geheimnis macht. Jahrelange Vorarbeit war dazu nötig. Der Krisendienst Mittelfranken (KDM) etwa startete bereits 1998 - "damals als ambulanter Krisendienst Nürnberg-Fürth", sagt KDM-Geschäftsführer Volker Haßlinger. Anfang der 2000er-Jahre sei das Angebot dann über die Stadtgrenzen hinaus erweitert worden. Seit einigen Jahren bereits bietet der KDM auch muttersprachliche Unterstützung in Russisch und in Türkisch an.

Wenn am Donnerstag die Bezirkstagspräsidenten aus ganz Bayern in Fürstenfeldbruck zu ihrer Vollversammlung zusammentreten, will Löfflers Amtsvorgänger Josef Mederer - er ist der Chef des oberbayerischen Bezirkstags - "auch noch eine weitere Vollzugsmeldung verkünden", wie er am Telefon sagt. In Mederers Bezirk können künftig Menschen in extremen Krisensituationen zusätzlich zur telefonischen Beratung darauf zählen, dass ihnen bei Bedarf der "aufsuchende mobile Krisendienst" ebenfalls rund um die Uhr zur Verfügung steht. Also auch mitten in der Nacht. "Wir sind damit die ersten, die das in Deutschland flächendeckend anbieten", sagt Mederer, "und dafür haben wir mehr als 800 Fachkräfte unter Vertrag, um den Einsatz sicherstellen zu können."

"Es wird noch einige Zeit dauern, bis auch wir ein solches Angebot machen können", sagt KDM-Geschäftsführer Volker Haßlinger. Augenblicklich gilt es erst einmal, die Kräfte zu bündeln, um den telefonischen Krisendienst rund um die Uhr sicherzustellen. Möglich wird das während der Nacht durch Zusammenschlüsse einzelner Leitstellen. "Dabei haben sich die Krisendienste in den Bezirken Oberfranken, Oberpfalz und Mittelfranken zusammengeschlossen", erklärt Bezirkstagspräsident Löffler. Zudem kooperierten auch noch die Krisendienste in Unterfranken und Schwaben. "Wo die Mitarbeitenden sitzen, ist für eine telefonische Beratung letztlich auch nicht relevant", meint Volker Haßlinger. Alle arbeiteten nach denselben Vorgaben und unter denselben technischen Voraussetzungen.

Anders als etwa in der Telefonseelsorge sind in den sieben Krisendiensten Bayerns nur professionelle Kräfte im Einsatz. Silvia Haberkern vom Krisendienst Mittelfranken ist Sozialpädagogin, in jungen Jahren hatte sie zudem den Beruf der Krankenschwester erlernt. In den jeweiligen Krisendiensten sind aber auch Ärztinnen und Ärzte, Psychologinnen und Psychologen sowie auch Pflegekräfte mit der Fachweiterbildung Psychiatrie tätig.

Die hohen Anforderungen an Qualifikation und Belastbarkeit sind indes auch geboten. Richard Hörtlackner von der Gemeinnützigen Gesellschaft zur Förderung des Krisendienstes Psychiatrie Oberbayern verweist auf die vielen Möglichkeiten, die zu einer Krise führen können: "Man denke nur an Familien- oder Paarkonflikte, Belastungsreaktionen, Suizidgedanken, Selbstverletzungsdruck, Angststörungen oder Panikattacken."

Das Hilfsangebot der Krisendienste ist darauf ausgelegt, eine Eskalation der Ereignisse und damit auch unnötige Aufenthalte in der Psychiatrie möglichst zu vermeiden. "Wir kommen, um zu entlasten", sagt Hörtlackner. Allein in Oberbayern werde die Nummer des Krisendienstes jährlich rund 30 000 Mal kontaktiert. Niemand müsse eine seelische Krise alleine überstehen - "beziehungsweise abwarten, bis eine Arztpraxis oder ein Sozialpsychiatrischer Dienst Sprechzeit hat".

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SZ vom 01.07.2021/kafe
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