SPD in Bayern:Die Letzten ihrer Art

SPD Altmannstein - Auftragsarbeit Sueddeutsche Zeitung

Zum letzten Mal trifft sich der SPD-Ortsverein Altmannstein - oder besser das, was von ihm geblieben ist. Anke Dierl (Mitte) hat noch einmal die roten Fähnchen ausgepackt. Demnächst werden sie den Ortsverein auflösen. Dann wird die SPD nach 50 Jahren nicht mehr im Gemeinderat vertreten sein.

(Foto: Oliver Strisch)

Noch stellt die SPD 4800 Mandatsträger in den bayerischen Städten und Gemeinden, dazu 240 Rathauschefs und Landräte. Doch vor der Kommunalwahl hat die Partei vielerorts keine Listen mehr.

Von Lisa Schnell, Altmannstein

Anke Dierl hatte die roten Fähnchen schon verräumt, ganz oben im Speicher steckten sie im Altpapier. Jetzt aber lugen sie noch einmal aus ihrer weißen Jutetasche. Zum letzten Mal. Zum letzten Mal geht Dierl im Wirtshaus zu ihrem Tisch. Zum letzten Mal sagt sie "Servus" zum Karl, der schon da ist, mit seinem Weißbier. Sie zeigt ihm die Holzständer für die Fähnchen: "Schau, die hast Du mal gemacht. Weißt du noch?" Ein kurzer Blick, ein unmerkliches Nicken, ein Schluck Weißbier. Dierl streicht mit der flachen Hand über die Falten auf der roten Fahne, über die drei Buchstaben: SPD. Sie lassen sich nicht glätten, sie bleiben verknittert. Da kommt der Hans. Er hat einen bordeaux-roten Anzug an. Einer sagt: "Der Beerdigungsanzug".

Zu Grabe getragen wird an diesem Tag die SPD. Anke Dierl, der Karl, der Hans, der Jürgen und die Heike - mehr kommen nicht mehr zu ihrer letzten Ortsvereinssitzung in Altmannstein bei Ingolstadt. Fünf Menschen, die letzten ihrer Art. Bald werden sie den Ortsverein auflösen. Und die SPD wird einfach verschwinden, aus dem Wirtshaus und aus dem Gemeinderat. Fast 50 Jahre saßen sie dort, fast 50 Jahre bestimmten sie mit. Immer bekamen sie ihre Listen voll, fast 20 Kandidaten. Jetzt haben sie: null.

So ist es in Altmannstein, Oberbayern, in Welden, Zusmarshausen, Schwaben, in Winkelhaid, Franken. Alles Orte, in denen die SPD Jahrzehnte im Gemeinderat saß und jetzt nicht mehr antritt. Je mehr man sich in die Lektüre von Regionalzeitungen vertieft, desto länger wird die Liste und desto größer die Ahnung, dass es nicht gut ausgehen könnte für die SPD am 15. März, wenn in Bayern Kommunalwahl ist.

Im Matheunterricht gab es immer diese Zahlenreihen, bei denen gefragt war, was als nächstes kommt. Bund, Land, Europa, von Wahl zu Wahl schrumpfte das Ergebnis der SPD. Was als nächstes kommt? Man will es sich gar nicht vorstellen.

Stolze 4800 Mandate hat die SPD noch in Bayern von rund 39 500, die vergeben werden. Plus etwa 240 Bürgermeister, Oberbürgermeister und Landräte. Viel mehr als die Grünen. Bei denen zeigt der Trend steil nach oben, bei der SPD steil nach unten. Jedes Jahr werden die Ortsvereine weniger, 2019 lösten sich 14 auf. Jedes Jahr sinken die Mitgliederzahlen drastischer. Von 2018 auf 2019 verlor die SPD 2000 Genossen und ist nun bei 56 700, Altersdurchschnitt: 61 Jahre. In Großstädten wie München kämpft die SPD um die Macht, auf dem Land ums Überleben.

Und wie sie gekämpft haben in Altmannstein. Auf dem Wirtshaustisch neben dem Bierkrug mit dem Besteck hat Anke Dierl eine Zeitungsseite gelegt: "Mach mit im Ortsverein" steht auf einer Anzeige mit SPD-Logo und sogar mit QR-Code für die Jungen. Dreimal haben sie die Anzeige geschaltet, sie haben sie ausgehängt beim Metzger und beim Bäcker. Gemeldet hat sich niemand. Einmal im Jahr, da kamen sie doch alle, wenn Dierl zum Grillfest lud. Ihre Würstl haben die Gäste gern gegessen, die Mitgliedsanträge, die auslagen, unterschrieben sie nicht.

Dierl, 49, ist eine "Rote", durch und durch. So sagt sie es, das sieht man, an ihren knallroten Haaren, aber vor allem, wenn sie mit der Hand über die SPD-Fahne streicht. Den Ortsverein aber will sie nicht mehr leiten. "Für was? Ein Grillfest?" Nur: ohne Ortsverein keine Liste, ohne Liste keine SPD im Gemeinderat. Was das bedeutet, das merkt der Hans mit dem schönen Anzug, Reichmann heißt er und ist 76 Jahre alt. Früher, da hätten sie ihn am Stammtisch gefragt, was die SPD so mache. Jetzt fragt niemand mehr: "Wir sind unsichtbar", sagt er. "Man existiert nicht mehr."

Sechs Jahre, so lange dauert die Amtszeit von Bürgermeistern, Kreis-, Land- und Gemeinderäten. Wer da nicht dabei ist, der gerät in Vergessenheit. "Dann hat man kein Gesicht mehr", sagt Rita Röhrl, Landrätin von Regen, eine der vier, die die SPD noch hat. Auf dem Land, in den kleinen Gemeinden, sei die Bindung zwischen Wähler und Kandidat noch richtig eng, sagt Röhrl. Es ist der Ort, an dem zwar keine Weltpolitik gemacht wird, dem aber etwas entspringt, das essenziell ist in der Politik: Volksnähe.

"Wenn wir das flache Land verlieren, dann geht es mit uns endgültig bergab", sagt Röhrl. Dass es so weit kommt aber, das glaubt sie nicht, und erzählt von ihrem Landkreis, wo die SPD genügend Kandidaten habe. Oder auf Niederbairisch: "Die Unseren san ned flüchtig." Und dann formuliert Röhrl einen Glaubenssatz, an den viele Genossen ihre Hoffnung hängen: "Wenn die SPD einen Kandidaten hat, der im Ort anerkannt ist, dann ist es völlig wurscht, wie die Stimmung im Bund oder im Land ist." Diese Überzeugung ist der Grund, warum Generalsekretär Uli Grötsch von Optimismus spricht und ein ehrgeiziges Wahlziel ausgibt: Er will alle bestehenden Bürgermeisterämter halten und noch mehr dazugewinnen. Nur: Stimmt das überhaupt noch, dass nur die Person zählt und nicht die Partei?

Die Angst, dass die Partei sie runterzieht, ist bei fast allen Oberbürgermeisterkandidaten der SPD zu spüren. In Erlangen und Bamberg werben die OBs der SPD in Orange für sich, in Coburg mit Orange und Pink. Bloß kein Sozi-Rot! Was früher Auszeichnung war, ist jetzt Bürde. In München: Ganz groß das Bild von Dieter Reiter, ganz klein das Logo der SPD. Nur: Was, wenn das Bild vom beliebten OB wegfällt und nur noch das Logo bleibt? Fünf der zehn kreisfreien SPD-Oberbürgermeister treten nicht mehr an, von Nürnberg bis Aschaffenburg. Wie viele in den kleineren Gemeinden aufhören, kann die Parteizentrale nicht sagen. Insgesamt aber rechnet der Gemeindetag damit, dass mindestens die Hälfte aller Bürgermeister aufhört.

Was dann passieren kann, erzählt Franz Wagner aus Welden am Telefon. Der 66-Jährige spricht leise und in knappen Worten. Was soll man da schon groß dazu sagen? 30 Jahre lang hat die SPD in dem kleinen Ort bei Augsburg den Bürgermeister gestellt. Die letzten zwölf Jahre waren sie stärkste Fraktion. Und jetzt? Treten sie nicht mehr an. Ihr Bürgermeister hört auf, was bleibt ist die Partei und mit der will offenbar keiner mehr etwas zu tun haben. In Welden ist es so, wie in vielen Gemeinden: Die meisten, die bis jetzt auf der SPD-Liste standen, sind keine Mitglieder, sondern Sympathisanten. Jahrelang brachte sie die SPD in den Gemeinderat, jahrelang profitierten sie von ihr. Und jetzt teilten sie Wagner mit: "Sie wollen nicht mehr unter SPD-Logo firmieren." Sie haben ihre eigene Liste gegründet. Sauerei, sagten manche bei ihm im Ortsverein, Wagner sagt: "Ich kann das schon nachvollziehen."

SPD in Bayern: Franz Wagner vom Ortsverein Welden.

Franz Wagner vom Ortsverein Welden.

(Foto: privat)

Elf Kilometer weiter in Zusmarshausen versucht es Susanne Hippeli, 58, zu erklären: "Man will ja auch eine Chance haben." Das letzte Mal kandidierte sie auf der SPD-Liste, jetzt nicht mehr. Es tue ihr leid, wenn es die SPD nicht mehr gäbe, das wäre schon "sehr schlimm". Nur: "Bei uns auf dem Land hat man auf jeden Fall verloren, wenn man den SPD-Stempel hat." Die Partei stirbt. Eure Zeit ist vorbei. Das sind so die Sachen, die sich Genossen derzeit anhören müssen. So erzählen sie es in Altmannstein. "Das ist wie ein Tattoo, das kriegt man nicht mehr weg", sagt Dierl.

Wegkriegen will Dagmar Raab ihr rotes SPD-Tattoo natürlich nicht. Nur etwas hinzufügen, eine zweite Farbe, die traditionell für Hoffnung steht und aktuell für Erfolg: grün. Raab sitzt gerade an ihrem Schreibtisch, als man sie erwischt. Hinter ihr an der Wand stehen sechs dicke Leitz-Ordner, Zeugnis von 20 Jahren SPD-Mitgliedschaft. Eine Jubiläumsschrift von ihrem Ortsverein hat Raab gerade gefunden. Fast 100 Jahre gibt es die SPD schon in Zapfendorf bei Bamberg.

Raab leitet die "Rentnerband", wie sie sagt. Mit 65 gehört sie zu den Jüngeren. Wie viele Flyer für die SPD sie an ihrem Schreibtisch schon zusammengebastelt hat, weiß sie gar nicht mehr. An den einen für die Kommunalwahl 2020 aber wird sie sich erinnern: Oben links das Logo der Grünen, eine große, gelbe Sonnenblume, darunter ein Streifen, eher pink: "Soziales Zapfendorf". Ein schmaler Streifen, nicht mal richtig rot, das ist also übrig geblieben von der SPD in Zapfendorf. Die stolze SPD, die Volkspartei, jetzt nur noch ein Anhängsel von den Grünen. So sehen das manche. Mit den Grünen zusammengehen, das geht gegen ihren Stolz.

SPD in Bayern: Dagmar Raab tritt jetzt mit den Grünen an.

Dagmar Raab tritt jetzt mit den Grünen an.

(Foto: privat)

Raab ist auch stolz auf die SPD. Aber sie hat nichts gegen die Grünen und sie ist realistisch: "Ich sehe nicht, dass sich die SPD bei uns erholen wird", sagt sie. Wer sich zu gut sei, um mit den Grünen auf eine Liste zu gehen, der lebe in der Vergangenheit. "Die Politik hat sich verändert. Jetzt interessieren grüne Themen", sagt Raab. Sie selbst kandidiert wieder. Sie wird dann vielleicht ein roter Tupfer sein in einer grünen Fraktion. Aber immerhin, die SPD wäre im Gemeinderat.

In Altmannstein wird sie es 2014 zum ersten Mal seit 50 Jahren nicht mehr sein. Zurück ins Wirtshaus: Hans Reichmann unternimmt einen letzten Versuch. Er will nicht aufgeben. Er kennt noch die guten Zeiten, als sie immer mehr wurden bei der SPD, als sie Kabarett-Abende veranstalteten und der Chef noch Willy Brandt hieß und nicht Esken und "Wie heißt der andere?" Reichmann weiß es nicht, aber er weiß, wie wichtig er es findet, dass die SPD nicht verschwindet in Altmannstein.

Er holt jetzt seinen roten Ordner raus: vergilbte Zeitungsausschnitte in Klarsichtfolien. Überschrift: Ein Feuerwehrauto für jeden Gemeindeteil. Das habe die SPD erreicht, sagt er. Oder damals, als einer von der CSU meinte, er könnte seinen Privattennisplatz auf Gemeindegrund bauen. Oder der zweite Bürgermeister die Madonna aus dem Heimatmuseum bei sich ins Wohnzimmer stellen wollte. Wer hat da den Aufstand gemacht? Die SPD natürlich. "Wir waren der Anwalt für die Gerechtigkeit", sagt Reichmann. Und er hofft, dass irgendwo da draußen ein Leser ist, der wie er meint, dass es diesen Anwalt noch braucht in Altmannstein. Und der vielleicht eintritt in ihren Ortsverein. Dass er vielleicht doch nicht verschwindet. Kurz: Bitte meldet euch!

Hans Reichmann muss jetzt erstmal durchatmen. "Wir leiden halt", sagt er. Sie sitzen noch ein bisschen an ihrem Tisch im Wirtshaus, trinken ihr Bier aus und ihre Apfelschorle. Zum letzten Mal. Dann sammelt Anke Dierl die roten Fähnchen ein. Zum letzten Mal. Die SPD in Altmannstein, sie ist verschwunden.

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