Süddeutsche Zeitung

Totenbrauchtum:Die letzte Begleiterin

In Fabriken und Pfarreien kümmerten sich früher sogenannte Totenfrauen um die Verstorbenen. Um ihr Tun ranken sich viele Geschichten - sogar lustige.

Von Hans Kratzer, München

Vor einem Vierteljahrhundert hat die aus dem Isental stammende Totenfrau Helene Kirchmaier der SZ erzählt, sie habe einmal einer verstorbenen Putzfrau einen Kübel und einen Lumpen in den Sarg legen müssen. Darauf habe die gute Frau kurz vor ihrem Tod bestanden. Ein älterer Herr wiederum habe verlangt, man möge ihm bitte sein Tischzeug, ein Messer, eine Gabel und einen Löffel mit ins Grab geben. Schon diese zwei Episoden - Kirchmaier hatte Dutzende parat - machen deutlich, dass die Anforderungen, die an eine Totenfrau gestellt wurden, vielschichtig, anspruchsvoll und oft auch heikel waren. Denn der Tod offenbarte sich diesen Frauen selten als annehmbarer Geselle. Heute gibt es nur noch wenige Totenfrauen, ihre Aufgabe ist professionalisiert worden und auf Bestattungsinstitute übergegangen.

Umso aufschlussreicher ist eine Geschichte, die soeben beim Tag der Archive präsentiert wurde und im Internet unter der Adresse amuc.hypotheses.org dokumentiert ist. Aus mehreren Akten geht hervor, dass die Institution der Totenfrau vor 150 Jahren nicht nur in den Pfarreien, sogar auch in größeren Betrieben installiert war. Jedenfalls ist dies bei der Baumwollspinnerei in Kolbermoor durch Urkunden belegt. Der Bau der Firma begann im Zuge der Fahrt aufnehmenden Industrialisierung im März 1861. Schon am 2. Januar 1863 begann in dem sechsstöckigen Hauptgebäude der Betrieb, und rasch setzte ein rasantes Wachstum ein.

Im Jahr 1873 stellte die Baumwollspinnerei Kolbermoor die "Todtenfrau" Cäcilie Bertl ein. Wurde draußen auf dem Land ein neues Unternehmen errichtet, "dann hatten die Gründer für mehr als nur für die betriebliche Infrastruktur zu sorgen", sagt Harald Müller vom Bayerischen Wirtschaftsarchiv, einer Gemeinschaftseinrichtung der bayerischen Industrie- und Handelskammern. Speziell im 19. Jahrhundert seien die Firmen oft gezwungen gewesen, auch ein soziales Umfeld für die Belegschaft aufzubauen. Es ging dabei um die Schaffung von Wohnungen für Beschäftigte und deren Familien, um Einkaufsmöglichkeiten, um Kinderbetreuung und um die Freizeitgestaltung, für die man ein Wirtshaus brauchte, möglichst mit Kegelbahn. "Neben der Arbeit musste oftmals das Leben mit errichtet werden", sagt Müller. "Und zum Leben gehört auch das Sterben, denn umsonst ist nur der Tod und der wiederum kostet das Leben."

Diesem Umstand verdankt das Bayerische Wirtschaftsarchiv einen seiner ältesten erhaltenen Arbeitsverträge. Die Baumwollspinnerei und Weberei in Kolbermoor hatte damals nämlich ihre eigene "Sepulturgemeinde Kolbermoor" ins Leben gerufen. Damit garantierte sie verstorbenen Beschäftigten oder Familienangehörigen ein würdiges Begräbnis. Und deshalb stellte die Spinnerei im Dezember 1873 Cäcilie Bertl als "Todtenfrau" an. Ihre Aufgabe bestand vornehmlich in der Vorbereitung der Leichname zur Beerdigung.

Die Entlohnung von Cäcilie Bertl richtete sich dem Arbeitsvertrag zufolge nach dem Alter der entschlafenen Personen. Für Verstorbene "über 13 Jahre" erhielt sie einen Gulden, für Personen "unter 13 Jahren" bekam sie 30 Kreuzer und für "todtgeborene Kinder" standen ihr immerhin noch 18 Kreuzer zu. Die Tatsache, dass tot geborene Kinder als eine eigene Entlohnungsrubrik in diesem Anstellungsvertrag erscheinen, lässt erahnen, dass dieser Fall noch häufig eintrat, wie Müller vermutet.

Der Archivar weist noch auf eine weitere Besonderheit hin. Cäcilie Bertl unterschrieb nämlich auf der zweiten Seite des Vertrags zweimal eigenhändig. "Zwar ist ihre Unterschrift deutlich weniger grazil als die geübte Handschrift des Kanzlisten, aber immerhin konnte sie lesen und schreiben - und das war zu dieser Zeit auf dem Land noch längst keine Selbstverständlichkeit", fasst Müller diese unerwartete Tatsache zusammen.

Zu den vielen Aufgaben, welche die Totenfrauen, die auch Leichenfrauen oder Leichenbitterinnen genannt wurden, meistens nebenberuflich erledigten, gehörten die Waschung und das Ankleiden der Toten. "Essigwasser verwende ich für das Gesicht, dann bleibt es frischer", erzählte Helene Kirchmaier. Für das Ankleiden eines Toten bedurfte es oft einiger Geschicklichkeit. Männer wurden früher oft in ihrem Hochzeitsanzug in den Sarg gelegt. Allerdings passte der in der Regel nicht mehr. Dann wurden eben die Nähte aufgetrennt, und zwar so, dass es auf Anhieb niemand merkte.

Das Thema Totenfrauen ist schier unerschöpflich. Und so verwundert es nicht, dass es sich auch in der Literatur niedergeschlagen hat, besonders eindringlich in bayerischen Texten. Unbedingt erwähnt werden muss die in den 80er-Jahren im Friedl Brehm Verlag erschienene Erzählung "Das Leichengeschäft" von Wolfgang Asenhuber. Er erzählt nach realistischem Vorbild vom Schicksal eines Ehepaares, das die Welt nur von ganz unten kennt: Sie ist Leichenfrau, er ist Totengräber. Daraus ergeben sich lustige, traurige und rührselige Episoden, aber auch eine fast schmerzhafte Direktheit, wenn es um die Kernthemen Tod und Verfall geht. Es ist ein Werk, das einem lange nachhängt ("Aber das ist alles wahr. Dass d'Haar weiterwachsen und die Fingernägel. Und die Haut wird wie Plastik. Und d'Augen fressen die Würm zuerst ...").

Hans Göttlers Geschichte "Eisong vorm Eigrom", die im "Niederbayern"-Band der Edition Lichtung zu finden ist, handelt von einer Leichenbitterin. Eine solche fungierte manchmal als Totenfrau, manchmal musste sie aber auch nur einsagen (mitteilen), dass jemand gestorben war. Die Kistlerin, von der Göttler erzählt, war eine Ratschn, weshalb es im Wirtshaus bei guter Unterhaltung und Brotzeit manchmal vorkam, dass sie wieder wegging, ohne ihren Auftrag erfüllt zu haben. Rief man sie zurück, so teilte sie mit: "Da Ding is gschdorm ... da Huawa, der in der Innstrass gwohnt hat, an Freida is d'Leich, um neine." Kurzum: Am Freitag ist die Beerdigung vom Huber. Göttlers schreibender Kollege Hans Kumpfmüller erzählt in seinem Buch "Lebt der alte Tod noch?" ebenfalls von Frauen, die Nachbarn und Angehörige über Todesfälle sowie über das Datum der Leich (Beerdigung) in Kenntnis setzen mussten. Kumpfmüller porträtiert die Leichenbitterinnen mit großer Offenheit: "Darüber hinaus waren sie aber auch gerne bereit, weniger bekannte, dafür aber pikante Details aus dem Leben der Verblichenen unverblümt, ja schonungslos, mit der ihnen nun einmal innewohnenden Diskretion auszustreuen."

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