Familie und Gesellschaft:"Kinderreichtum funktioniert nur, wenn man Zeit hat"

Babystrampler, ein Kinderwagen und ein künstlicher Klapperstorch in Ottbergen

Bei dem einen oder anderen Paar kommt der Storch eben öfter: In Bayern sind es derzeit etwa 140 000 Familien, in denen drei oder mehr Kinder leben.

(Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Familien mit vielen Kindern stoßen oft auf Vorbehalte. Der fünffache Vater und Verbandschef Helmut Magis fordert von der Gesellschaft mehr Anerkennung. Ein Besuch.

Von Johann Osel, Kirchseeon

Der Fuhrpark vor der Haustür der Familie Magis lässt erahnen, dass hier normalerweise Trubel herrscht. Fahrrad an Fahrrad steht dort aufgereiht, Tretroller und anderes Spielzeug. Drinnen aber ist die jüngste Tochter, acht Jahre, in einer ungewohnten Lage: Keines ihrer Geschwister ist daheim, alle ausgeflogen. Maria Magdalena und Helmut Magis sind da, im Backofen schmort ein Wildbraten, Hund Gunny schleicht herum, womöglich riecht er das Fleisch. Zu siebt sind sie in der Familie Magis in Kirchseeon - Landkreis Ebersberg, im Münchner Speckgürtel -, fünf Kinder im Alter zwischen acht und 20 Jahren hat das Ehepaar.

Ein quasi sechstes "Kind", ein Austauschschüler aus Mexiko, soll mit dem Festessen verabschiedet werden. Doch die Geschwister sind mit ihm nach München gefahren und aufgehalten worden. Die Ältesten, Studentin und Abiturient, fehlen ohnehin, die eine macht ein Praktikum in Malaysia, der andere feiert den Schulabschluss mit Freunden in Prag. "Es ist ein Klischee, dass in einer großen Familie immer volles Haus ist", sagt die Mutter. "Doch wenn jemand etwas vorbeibringen will, kann ich zumindest sagen: Irgendwer ist sicher da." Der Braten muss warten. Auch wenn das Leben einer großen Familie oft ein logistisches Meisterstück ist - es ist nicht alles planbar im Leben.

Geplant hat Helmut Magis, Landesvorsitzender des Verbands kinderreicher Familien, auch die fünf Kinder nicht. "Es ist nicht lebensnah, sich so etwas vorzunehmen", meint der Rechtsanwalt. Das sei wie im Beruf - da könne man ja auch schlecht sagen, in 20 Jahren sei man Justizminister. "Man schlägt vielmehr den Weg ein, sich bewusst für Kinder zu entscheiden. Und man wächst mit jedem Kind in diese Aufgabe rein", sagt der 51-Jährige. Kinderreichtum sei eine Möglichkeit, viel zu bewegen im Leben. Konkret lief das bei ihm so: Ende der Neunziger, im Referendariat, kam die erste Tochter. Er zog mit seiner Frau anfangs noch in einer WG zusammen, etablierte sich beruflich, suchte ein Domizil. Das zweite Kind kam bald, nach fünf Jahren Pause noch mal insgesamt drei. "Mit einer Art Gottvertrauen" sei das alles so gekommen. "Vielleicht haben wir das auch in den Genen." Er hatte drei Brüder sowie mehrere Halbgeschwister, seine Frau hatte ebenfalls vier Geschwister.

Helmut Magis steht in Bayern einem Verband vor, der eben dieses Familienmodell gegenüber Politik und Öffentlichkeit vertritt. Mit drei Kindern ist man laut Definition des Verbands kinderreich beziehungsweise Mehrkindfamilie. Wieso genau diese Zahl? Weil es grob das Doppelte des Durchschnitts sei, so Magis; und weil sich bei drei Kindern die Infrastruktur ändern müsse, die klassische Drei-Zimmer-Wohnung werde zu klein, Urlaub mit Flügen zu teuer. Als Beispiel. Im Verband - 1300 Mitgliedsfamilien in Bayern, 5000 bundesweit - kämen große Familien mitunter durch Patchwork zustande; und einige tendierten auch Richtung Fußballmannschaft, 13 oder 14 müsste der Spitzenreiter sein. "Das ist jetzt aber auch kein Turnier, wer die meisten hat."

Etwa 140 000 Familien mit drei oder mehr Kindern leben laut Sozialministerium in Bayern, das ist etwas mehr als ein Zehntel aller Familien. Bei vier plus fällt der Anteil aber rasant in den niedrigen einstelligen Prozentbereich. 1970 zählte man 333 000 Familien mit drei oder mehr Kindern - 22,4 Prozent Anteil damals. Steigender Wohlstand, Individualisierung, berufstätige Frauen, allgemein Flexibilität in Beziehungen, Mobilität, Pillenknick - derlei Erklärungsmuster nennt oft die Wissenschaft. In der öffentlichen Wahrnehmung sind kinderreiche Familien heute nicht wohl gelitten: Medial kommen sie meist nur vor, wenn es um arabische Clans oder christliche Fundamentalisten geht; oder im Privatfernsehen als Unterschichtphänomen, mit Jessicas, Jennifers und Jaquelines im Rudel. Magis will gegen "das miese Image" kämpfen. Auch er selbst hat früher schon Sprüche gehört wie: "Haben die keinen Fernseher?" Verbreitet sei auch: Die können sich vom Kindergeld ein gutes Leben machen. "Man muss sich davon nicht angegriffen fühlen. Es gibt immer Menschen, die einen Grund finden, sich gegen das Leben und die Lebensfreude zu stellen." Fakt sei: "Große Familien erfahren nicht die Anerkennung und gesellschaftliche Unterstützung, die sie verdienen." Zumindest sieht er einen leicht positiven Trend. Vor zwei Jahrzehnten sei die Vorstellung ganz klar gewesen, wie Familie zu sein habe: Vater, Mutter, maximal zwei Kinder, "das war in den Köpfen drin". Mittlerweile breche das auf, so wie die Gesellschaft insgesamt toleranter werde. Der Verband will politische Bewegung: "Mehrkindfamilien haben keine Lobby."

Familie und Gesellschaft: Das Ehepaar Helmut und Maria Magdalena Magis hatte nicht geplant, fünf Kinder zu bekommen. "Es ist nicht lebensnah, sich so etwas vorzunehmen."

Das Ehepaar Helmut und Maria Magdalena Magis hatte nicht geplant, fünf Kinder zu bekommen. "Es ist nicht lebensnah, sich so etwas vorzunehmen."

(Foto: privat)

Mit Magis kann man Stunden über das Thema sprechen, in seiner Kanzlei im Ortskern von Kirchseeon. Zehn Minuten zu Fuß sind es heim. Kein Zufall. Nach dem Examen hatte er eine Forschungsstelle, wollte sich aber niederlassen - um nicht zu pendeln, um zu Hause Mittag zu essen. Seine Frau, Mikrobiologin, hatte den Wunsch, sich in Vollzeit um die Familie zu kümmern. Nicht nur zum Versorgen, auch zum Fördern. Sie ist Südtirolerin mit deutsch-italienischen Wurzeln, die Kinder wurden zweisprachig erzogen. Von Krippen halten die Eheleute wenig - wegen der Mutter-Kind-Bindung, wie Magis einwirft. "Kinderreichtum funktioniert nur, wenn man Zeit hat als Eltern oder sie sich nimmt."

Ihm geht es auch um den "Wert für die Gesellschaft", den kinderreiche Familie erbrächten - nicht nur aus demografischer Sicht. Kinder mit Geschwistern übten Sozialverhalten von klein auf, kämen in Gruppen zurecht, übernähmen Verantwortung, müssten sich aber auch behaupten, würden selbstbewusst. Und die Gesellschaft greife die "Assets" dieser Familien ab, "gut ausgebildete, im besten Fall gut erzogene Steuerzahler". Seine Vorgängerin als Landeschefin, die Münchnerin Alexandra Gaßmann, hat ihre neun Kinder in der Presse mal "scheckheftgepflegt" genannt.

Ein Haushalt mit Kindern vom Baby bis zum Teenager - das sei natürlich herausfordernd, erzählt Magis. Er denkt an die Spülmaschine, mit lebenslanger Garantie. Nach vier Jahren habe die den Geist aufgegeben, lief sie doch drei Mal pro Tag. Und ohnehin bedeute eine solche Familie "Action pur" - viele Kinder seien Anziehungspunkt für weitere Kinder, Freunde, Übernachtungsgäste, Hausaufgabengruppen, Austauschschüler, später Verehrer, fünf Mal Geburtstagsfeiern im Jahr - "ein ständiges Kommen und Gehen, gefühlt zwischen Restaurant und Ferienlager". Magis sagt das durchaus im Rückblick, da die Älteren ja flügge geworden sind. "Es wäre übrigens schade, wenn mit Ende 40, Anfang 50 das Haus plötzlich ganz leer wäre."

Der Verband sucht das Gespräch mit der Politik, veranstaltet Debattenforen, gibt Studien in Auftrag. Es geht mal um Kleinigkeiten wie Familienreservierungen bei der Bahn. Oft um Großes: Dass man "finanziell diskriminiert" werde, wie Magis es nennt, dass "Kindererziehung steuerlich betrachtet als Hobby gilt"; von Rente oder beruflichem Wiedereinstieg für Mütter ganz zu schweigen. Was ihn umtreibt, ist das Problemthema Wohnen. Daher wagten Mittelschichtsfamilien oft nicht, mehrere Kinder zu bekommen. Magis stellt sich ein großes, gesellschaftliches Pilotprojekt in einer bayerischen Stadt vor. In einem Quartier solle, über einen Architekturwettbewerb speziell gestaltet, gezielt ein Mix an Bewohnern einziehen, Familien jeder Größe, auch sehr große, Singles, Senioren, und zwar mit dem Grundgedanken gegenseitigen Helfens. "Das macht die Großfamilien sichtbar und zeigt: Alle gehören dazu."

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