Süddeutsche Zeitung

Streit um Corona-Regeln:"Ein Grenzwert ist ein Grenzwert"

Bayern steuert vielerorts auf den nächsten Lockdown zu, doch Ministerpräsident Söder verteidigt die 100er-Marke. Für Proteste der Lehrerverbände zeigt er wenig Verständnis und erwägt eine Testpflicht für Schulen in Hotspots.

Von Andreas Glas, Anna Günther und Matthias Köpf

Am Ende der Pressekonferenz greift Markus Söder (CSU) zu einer bewährten Redefigur, um wirklich jeden Zweifel auszuräumen: der Tautologie. "Ein Grenzwert ist ein Grenzwert", sagt der Ministerpräsident. Basta. Er meint die Notbremse, die ab einer lokalen Sieben-Tage-Inzidenz von 100 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner greift und quasi die Rückkehr in den Lockdown bedeutet.

Deutlich mehr als ein Drittel der Landkreise und kreisfreien Städte in Bayern liegt, Stand Dienstag, bereits über der 100er-Marke. Und es werden täglich mehr. "Wir haben jetzt ein Konzept", sagt Söder trotzdem. "Das ändern wir jetzt nicht jeden Tag hin oder her, bloß weil die Zahl nicht passt."

Nur was Schulen betrifft, will Söder "Regionen über hundert eine Perspektive geben" - was ohnehin bald die meisten sein könnten. Auch dort sollen Viertklässler nach Ostern wieder zur Schule gehen, zusätzlich zu Abschlussklassen und womöglich den Elftklässlern. Zudem ist geplant, die Tests stark auszuweiten. Neben Selbsttests könnten Gurgel- und Pooltests eingesetzt werden, die für Kinder leichter handzuhaben sind. Ziel ist, nach Ostern Lehrer wie Schüler zwei Mal pro Woche zu testen. Bisher sind diese Tests freiwillig, die Staatsregierung will nun eine Testpflicht in Hotspots prüfen. "Wenn das Infektionsgeschehen steigt, muss das Testen engmaschiger werden", sagt Söder. Die Tests der Schüler sollen in der Schule stattfinden, abstreichen sollen sich Kinder und Jugendliche selbst. Dafür reicht ein Wisch durch die Nase, Lehrer sollen Schüler anleiten.

Lehrerverbände hatten zuletzt gegen Tests in der Schule protestiert, sich geweigert, Schüler abzustreichen und die Impfung zur Bedingung für Schulöffnungen gemacht. Söder kommentiert das so: "Wer nur jammert, wird keine Lösung finden." Das ständige Betonen der "Schwachstellen" bringe nichts. Statt nur mit Maximalforderungen wie der Abschaffung von Noten zu kommen, sollten die Verbände an konzeptionellen Lösungen arbeiten. Man diskutiere "seit einem Jahr in der Schule das Gleiche: auf und zu. Aber zu überlegen, wie man mitten drin die Pädagogik weiterentwickeln könnte, zum Beispiel Distanzunterricht nicht nur als Ort-zu-Ort-Unterricht zu definieren, sondern auch die Methodik weiterzuentwickeln? Nada."

Als Schwachstelle sieht Söder offenbar die Kommunikation des Kultusministeriums. Jede Woche rätselten Eltern und Schulleiter, wie die Schreiben aus dem Ministerium, einige "der höchsten Elaborate von staatsbürokratischer Formulierungskunst", zu verstehen seien. Kultusminister Michael Piazolo (FW) schiebt die Kritik zurück: Die Schreiben seien "Ausfluss dessen, was der Kultusminister glaubt, was der Ministerpräsident denkt".

Abgesehen von den Schulen bleibt Söder hart. Er fürchtet, dass die Infektionszahlen "über die Decke" gehen könnten und spricht sich deshalb auch für eine Testpflicht für Urlaubsrückkehrer aus. Die britische Virusmutante breite sich weiter aus in Bayern, "von Ost nach West", sagt Söder. Der Anteil der Mutante liege bei fast 60 Prozent. Nun von der Inzidenzzahl abzurücken, "wäre ein Blindflug mit erheblichem Gefahrenpotenzial".

Der Rosenheimer OB will die Grenze für Schließungen auf 130 hochsetzen

Mit Widerspruch muss Söder nicht rechnen, als er die Lockdown-Notbremse nach der Sitzung des Kabinetts verteidigt. Was auch daran liegt, dass diesmal nicht Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (FW) neben ihm steht, der in der Neuen Zürcher Zeitung gerade wieder sagte, es sei falsch, "nur auf die Grenzmarken" zu schauen. Er habe "volles Verständnis, wenn Kommunen die 100er-Grenze nicht wie ein Evangelium behandeln", sagte Aiwanger. Söder kontert: "Alle Versuche, diese Inzidenzen umzuinterpretieren oder Schlupflöcher zu suchen sind auf Dauer der falsche Weg. Deswegen bringt es auch nichts, die Notbremse dann auf 150 hochzusetzen."

Nicht auf 150, aber auf 130 will etwa Andreas März (CSU) die Grenze für Rosenheim setzen. Er erklärt seinen Vorschlag mit einer Ampel: Unter 100 zeige sie Grün, über 130 Rot, dazwischen Gelb - und bei Gelb dürfe man ja auch über die Kreuzung, ohne gleich eine Notbremsung hinlegen zu müssen. Zudem würde der OB seine 64 000-Einwohner-Stadt gern zusammen mit dem 260 000 Einwohner starken Landkreis betrachtet sehen, denn bei relativ wenigen Einwohnern reiche ein größerer Ausbruch, um alle Inzidenzgrenzen zu reißen.

Im Landratsamt stößt der Vorschlag auf Skepsis, schon am Montag hätte die Stadt mit ihren Zahlen den Landkreis gleich mit über die 100er-Marke gehoben. Aber die reine Inzidenz ist für März eh nicht mehr das richtige Kriterium. Wie viele andere Politiker aus besonders betroffenen Gebieten fordert er, auch die Impfquoten bei gefährdeten Gruppen und die Auslastung der Intensivstationen als Kriterien heranzuziehen. Am Montag, in einer Videoschalte des CSU-Vorstands, gab es ebenfalls Kritik an Söders Fokus auf die Inzidenz, wie aus Teilnehmerkreisen zu hören war.

Neben der Inzidenz auch den Impffortschritt zu berücksichtigen, hält Söder erst "bei hohen Impfquoten" für sinnvoll. Es sei "bitter", dass der Impfstoff von Astra Zeneca derzeit nicht eingesetzt werden darf. Es brauche rasch Gewissheit, wie es weitergehe, sagt Söder. Er plädiert erneut dafür, den Impfstoff für alle freizugeben, sobald er wieder zugelassen sei. Zudem solle das Vakzin dann auch von Hausärzten verimpft werden. Statt starrer Prioritäten könne es Empfehlungen geben, um das Impftempo zu erhöhen. Dafür sollen auch die Abstände zwischen erster und zweiter Impfung gestreckt werden. In Hotspots solle prioritär geimpft werden, "so schnell wie möglich" auch in Betrieben.

Als erste Region in Bayern weicht Hof von der bundesweit vorgegebenen Impfreihenfolge ab. Hausärzte dürfen individuell gegen Corona impfen, teilen Stadt und Landkreis am Dienstag mit. Davon sollen chronisch Kranke und Patienten mit Vorerkrankungen profitieren. Zudem können sich Lehrkräfte von Abschlussklassen und Mitarbeiter der Ganztagsbetreuung impfen lassen.

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SZ vom 17.03.2021/wean
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