Nach dem Hitler-Regime machten frühere Nationalsozialisten oft problemlos weiter Karriere im bayerischen Justizapparat. Wie es dazu kommen konnte, zeigt eine Untersuchung, die das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ) zum Umgang insbesondere des Justizministeriums mit seiner NS-Vergangenheit nach 1945 erstellt hat. Die Studie, gefördert eben durch das Ministerium, ist unter dem Titel „Landesjustiz und NS-Vergangenheit“ nun als Buch erschienen. Es wurde am Montag im Münchner Justizpalast vorgestellt.
Dafür analysierte die Autorin Ana Lena Werner – es ist ihre Doktorarbeit – die Personalakten von 69 Juristen, die zwischen 1945 und 1970 als Minister, Amtschef, als Leiter von Referaten oder in ähnlichen Positionen im Ressort aktiv waren. Alles Männer, denn erst nach 1970 kam die erste Frau in ein Führungsamt. Aus früheren Studien war dem IfZ bekannt, dass Ende 1948 mehr als die Hälfte aller Beamten im Justizministerium vormals NSDAP-Mitglieder waren; auch wenn diese Parteimitgliedschaft zunächst nur eine formale Belastung ist, die nichts über konkrete Taten aussagt.
„Der NS-Unrechtsstaat war auch deshalb und nur deshalb möglich, weil sich nicht wenige Juristen, die eigentlich Recht und Gesetz verpflichtet waren, in den Dienst des Regimes gestellt hatten“, erklärte Justizminister Georg Eisenreich (CSU). Viele seien über das Ende des Regimes hinaus in der Justizverwaltung tätig gewesen. IfZ-Direktor Andreas Wirsching teilte mit: „Die neuere Behördenforschung hat gezeigt, wie wenig Gewicht die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit für das Selbstverständnis der damaligen demokratischen Ministerialbeamten hatte – nicht nur in München, sondern auch in Bonn.“
Fazit der Untersuchung: Es handele sich um eine „vergangenheitspolitische Fehlleistung“ der Justizverwaltung, ja, um ein „Versagen“, wie Werner sagte. Dieses fußt aber nicht unbedingt auf Netzwerken oder moralischer Gleichgültigkeit – sondern sehr stark auf der sturen Fortsetzung der Verwaltungspraxis. Werner erkennt eine „bemerkenswerte Stabilität“ in der Personalverwaltung. Diese sei über drei politische Systeme hinweg – Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Bundesrepublik – grundsätzlich dieselbe geblieben. NS-Dokumente sind einfach weiterverwendet worden. So seien politische Prüfungen aus der Nazi-Zeit, wie zur Mitgliedschaft in der NSDAP und anderen Gliederungen, oder Dokumente zur reinrassigen Abstammung zunächst nicht aus Personalakten entfernt worden, bis in die Fünfzigerjahre. Beholfen habe man sich nur mit Durchstreichen von offensichtlichen NS-Symbolen.
Spruchkammer-Urteile bei der Entnazifizierung oder Beurteilungen der Verfassungstreue in der jungen Bundesrepublik seien in den Personalmappen einfach dazu geheftet worden; als wäre das Vorherige etwas ganz Normales. Die Vergangenheit bayerischer Juristen sei damit zwar nicht verschwiegen, aber „routinemäßig verwaltet“ worden – was dazu geführt habe, dass sie sich damit nicht tiefergehend auseinandersetzen mussten.
Die Autorin analysiert drei Phasen der Entnazifizierung: In der Aufbauphase der bayerischen Justiz habe eine Null-Toleranz-Politik gegenüber NSDAP-Mitgliedern und aktiv für das Regime handelnden Kandidaten geherrscht – wenngleich nicht alle der damals eingestellten Juristen nach heutigem Verständnis als gänzlich unbelastet gelten können. Diese Linie sei aber bald wegen Personalmangels aufgegeben worden. Ende der 1940er-Jahre habe es genügt, als NSDAP-Mitglied eine demokratische Gesinnung durch einen Vorgesetzten attestiert zu bekommen.

Unterstützt wurde die wenig stringente Aufarbeitung durch die vorherrschenden Bilder von der Justiz: Die bayerische Verwaltung habe gerne das Bild einer nur kurz gestörten Kontinuität zur Weimarer Zeit gezeichnet. Mehr noch sei das Mantra der „unabhängigen Justiz“ und des Wiederaufbaus wirkmächtig propagiert worden – unter Aussparung der Frage, warum eigentlich alles kaputt sei. Weitere Erklärungsmuster seien damals gewesen, Juristen hätten im NS-Staat gar nicht so eine große Rolle gespielt. Oder auch, dass es sich um eine Art „Jugendsünden“ der späteren Ministerialbeamten handele.
Die sogenannte „Blutrichter“-Kampagne läutete 1957 eine dritte Phase ein. Fortan stand im Fokus, im NS-Staat nichts getan zu haben, das öffentlich zum Skandal taugte. Die Kampagne war von der DDR ausgegangen, sie brandmarkte Juristen, die etwa am Volksgerichtshof der Nazis tätig waren. Nach diesem Maßstab wurde dann elf bayerischen Juristen, weil sie an „exzessiven Todesurteilen“ beteiligt gewesen waren, der vorzeitige Ruhestand nahegelegt. Elf „von einer langen Liste“, wie Werner erklärte. Den Umgang mit der NS-Vergangenheit, bilanzierte die Autorin, habe die Justiz „nicht aus sich heraus betrieben“. Sondern nur, wenn es etwa im Falle der „Blutrichter“ gar nicht anders ging, als ein „Aufräumen“ zu zeigen.
Eisenreich sagte: „Die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus ist in diesen Tagen bedeutsamer denn je.“ Vor dem Hintergrund des Antisemitismus heutzutage und dem wachsenden Einfluss autoritärer Kräfte in vielen Demokratien gelte es, das historische Bewusstsein für NS-Unrecht zu schärfen. Das Ministerium hatte dies zuletzt mit Ausstellungen, Podien und anderen Initiativen befördert. Ebenfalls das IfZ hat zudem im Auftrag Eisenreichs die Vergangenheit der Namensgeber juristischer Standardwerke, Otto Palandt und Heinrich Schönfelder, untersucht und klare Belege für deren nationalsozialistische Gesinnung gefunden; was rasch zu einer Umbenennung der Titel führte.
Das Institut prüft in vielen Einzelprojekten den Umgang bayerischer Ministerien nach 1945 mit ihrer NS-Vergangenheit. Vergangenes Jahr war bereits ein Band zur Staatskanzlei erschienen. In deren Personalpolitik hat demnach die Wahrung bayerischer Identität mehr gezählt als die Abgrenzung vom Hitler-Regime – der Nationalsozialismus wurde gar als etwas „Außerbayerisches“ skizziert. Und das trotz der Einsetzung unbelasteter erster Ministerpräsidenten wie Fritz Schäffer (CSU) und Wilhelm Hoegner (SPD). Der Anteil früherer NSDAP-Mitglieder in der Führungsebene der Staatskanzlei war zwar deutlich niedriger als in den meisten Bundesministerien nach 1949. Hier spielte aber weniger Sensibilität als der Druck der US-Militärregierung auf die Landesregierung schon seit 1945 eine Rolle. Laut IfZ blieb „der politische Reinigungswille gegenüber der Beamtenschaft begrenzt“.