Das ist ein höchstrichterliches Urteil, an dem sich die Geister scheiden: Christine Miller und ihr Verein „Wildes Bayern“ triumphieren. „Wir sind überglücklich“, ließ die Wildbiologin wissen, als jetzt das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) die bisherige Verordnung kassiert hat, die in bestimmten Bergwäldern eine Jagd mit einer weitgehenden Aufhebung der Schonzeiten für Gams, Rotwild und Rehe möglich gemacht hat. „Seit über 20 Jahren kommt unser Wild auf Dutzenden Flächen in den oberbayerischen Gebirgswäldern auch im Winter und im Frühjahr nicht mehr zur Ruhe“, klagt Miller. Doch nun hat das BVerwG die Verordnung von 2019 für unrechtmäßig erklärt, auf deren Basis in einer Reihe von Gebieten die Schonzeiten aufgehoben waren. „Wir freuen uns riesig über diesen Sensationserfolg“, sagt Miller.
In Förster-Kreisen, allen voran bei den Bayerischen Staatsforsten (BaySF), die die staatlichen Bergwälder bewirtschaften, aber auch in allen möglichen Behörden und sogar in der Staatsregierung hat das Urteil der Leipziger Richter dagegen Unruhe und Verunsicherung ausgelöst. Zwar will sich offiziell niemand äußern, schon gar nicht zu Details. Aber jüngst haben sich sogar Forstministerin Michaela Kaniber (CSU), Wirtschafts- und Jagdminister Hubert Aiwanger und Umweltminister Thorsten Glauber (beide FW) mit dem Urteil und seinen Konsequenzen beschäftigt. Für sie alle kommt der Richterspruch zur Unzeit. Dieser Tage wollte der Freistaat nämlich eine Nachfolgeverordnung erlassen. Sie sollte zum 15. Dezember in Kraft treten, wenn die Schonzeit für die Gams beginnt.
Das Problem für die Förster und die Beamten in den Ministerien und bei der Regierung von Oberbayern, die für die neue Verordnung zuständig sind, ist: Derzeit weiß keiner so genau, was das Leipziger Urteil für die neue Verordnung bedeutet. Kann sie erlassen werden? Ist sie gerichtsfest? Und was ist in der Zeit, in der womöglich vor Gericht über sie gestritten wird? Der Grund der Verunsicherung: Bisher haben die Leipziger Richter ihr Urteil nur mündlich verkündet. Die schriftliche Fassung und Begründung stehen noch auf Wochen hinaus aus. Erst aus ihr werden aber die Konsequenzen deutlich, wie es mit der Jagd in den bisher schonzeitfreien Gebieten weitergeht.
„Dabei drängt die Zeit“, sagt ein BaySF-Mann
„Dabei drängt die Zeit“, sagt ein BaySF-Mann, der wegen der angespannten Stimmung nicht namentlich genannt werden will. „Wir brauchen die neue Verordnung unbedingt und schnell. Für die betroffenen Bergwälder steht viel auf dem Spiel.“ Auch aus Sicht von Forstministerin Kaniber ist die neue Verordnung dringend nötig. Diese Einschätzung hätten auch Aiwanger und Glauber geteilt, lässt sie mitteilen.
Es sind spezielle Bergwälder, in denen die BaySF weiter frei von Schonzeiten jagen wollen: sogenannte Schutzwälder, die mit immensem Aufwand saniert werden. Das sind Bergwälder, die Ortschaften, Straßen und andere Verkehrswege vor Lawinen, Muren und Sturzfluten bewahren sollen. Außerdem sollen sie die Hochwassergefahr verringern – indem sie das schnelle Abfließen der Niederschläge aus dem Gebirge verzögern. Mehr als die Hälfte der Bergwälder in Bayern sind als Schutzwälder klassifiziert.
Viele Schutzwälder sind in schlechtem Zustand. Für sie leistet sich der Freistaat ein Millionen Euro schweres Sanierungsprogramm. In dessen Rahmen sind bislang 13,5 Millionen junge Tannen, Buchen, Bergahorne und andere Bäumchen gepflanzt worden. Hier kommen die Gämsen und anderen Wildtiere ins Spiel. Für sie sind die Triebe der jungen Bäumchen ein hochwillkommenes Fressen. „Wenn man sie nicht daran hindert, die Bäumchen auf den Sanierungsflächen zu verbeißen, sind unsere Bemühungen um den Schutzwald schnell dahin“, sagt der BaySF-Mann. „All die Millionen wären in den Sand gesetzt.“
Die neue Verordnung soll einmal in 15 Prozent der Schutzwälder gelten.
Die wirksamste Methode, Gämsen, Rotwild und Rehe von einem Bergwald fernzuhalten, ist eine scharfe Jagd. Das ist der Grund, warum in vielen Schutzwald-Sanierungsgebieten schon seit der Jahrtausendwende ohne Schonzeit gejagt wird und es nach dem Willen von BaySF und Freistaat weiter getan werden soll. Die neue Verordnung soll in gut 15 Prozent der bayerischen Schutzwälder gelten. Aus Jägerkreisen hagelt es freilich heftige Kritik. „Katastrophale Zustände“ und „überjagt“, lauten schon seit Langem die Vorwürfe. Die Wildbiologin Miller sprach einmal von einem „Perpetuum mobile der Gamswildvernichtung“.
In ihrer Klage legte Miller dem Freistaat einen Verstoß gegen das europäische Naturschutzrecht zur Last. Und zwar nicht nur was die Gams anbelangt. Sondern außerdem die Auer- und Birkhühner, aber auch die Steinadler. Aus Sicht von Miller ist die schonzeitfreie Jagd auf die Gams nämlich auch ein Eingriff in die Lebensräume dieser Vogelarten, die nach EU-Recht streng geschützt sind. Denn Auerhühner, Birkhühner und Steinadler kommen in den gleichen Bergregionen vor wie die Gämsen. Für eine Schonzeiten-Aufhebung müsse man deshalb eine sogenannte Verträglichkeitsprüfung durchführen. Sie habe aber nicht stattgefunden, warf Miller dem Freistaat vor. Das Bundesverwaltungsgericht teilte die Einschätzung und erklärte die Verordnung für rechtswidrig.
Wie geht es nun weiter? Nach SZ-Informationen haben die BaySF für die neue Verordnung ein umfangreiches wildbiologisches Gutachten zu den Folgen der Schonzeiten-Aufhebung für Auer- und Birkhühner und Steinadler erarbeiten lassen. Die Vorgaben für die Jäger, die daraus entstanden, sind demnach sehr detailliert. Sie sollen von Abständen reichen, die zu Balzplätzen der Hühnervögel und den Horsten der Adler eingehalten werden müssen, bis zu Uhrzeiten, zu denen das jeweilige Jagdgebiet betreten werden darf. Laut Forstministerin Kaniber finden derzeit „intensive Abstimmungen“ statt, damit die neue Verordnung vor Gericht Bestand haben wird. Miller sieht es nämlich nach eigenen Worten „als unsere Pflicht an“, auch die neue Verordnung zu beklagen, sowie sie erlassen wird.