Das Hören auf den Willen der Gemeinden, vor allem der in den ländlichen Regionen, und die Beteiligung der Bürger an der Politik gehören zu den politischen Grundüberzeugungen von Hubert Aiwanger. Zumindest bekennt sich der Vize-Ministerpräsident und Freie-Wähler-Chef bei so gut wie einem jeden seiner Auftritte wortgewaltig dazu. Wohl auch deshalb gibt sich Aiwanger ziemlich reserviert gegenüber dem Ansinnen von Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder, Bürgerentscheide – das Instrument schlechthin, wenn es in Bayern um direkte Demokratie geht – einzuschränken. Das werde seine Partei auf keinen Fall mittragen, ließ er unlängst wissen.
In Sachen Naturschutz ist das offenkundig anders. Da ist Aiwanger allem Anschein nach durchaus bereit, Gemeinden und Initiativen hart anzugehen, die ihn ernst nehmen und zusammen mit ihrer Bevölkerung befördern wollen. Bei einem Auftritt im unterfränkischen Spessart hat sich Aiwanger jetzt die Pläne für ein Biosphärenreservat dort in so derben Worten vorgenommen, dass noch am Montag viele Lokalpolitiker in der Region bis hinauf zu den Landräten schier sprachlos schienen. Hatten sie doch ihrer Überzeugung nach bisher alles unternommen, um die Gemeinden und die Bevölkerung in ihre Pläne einzubeziehen und nichts gegen deren Willen zu tun.
Hier einige Beispiele für Aiwangers Worte, die alle einem Bericht des im Spessart erscheinenden Main-Echo entstammen. Das Biosphärenreservat selbst nannte Aiwanger demnach eine „Schnapsidee“ von „Ideologen“ und „Mainstream-Medien“, die Initiative wiederum erklärte er zum „toten Pferd, das man auf keinen Fall weiterreiten“ dürfe, die Pläne sind aus seiner Sicht eine Idee von „Städtern“, die der Landbevölkerung Einschränkungen überstülpen und „Ökologie spielen“ wollen, und wer für mehr Naturzonen im Spessart sei, sei „Mörder“ der Eichenbestände dort. Am Montag wollte das Wirtschaftsministerium sich nicht zu den Äußerungen äußern. In einer Pressemitteilung wurde Aiwanger damit zitiert, dass er „im Sinne des Kultur- und Wirtschaftsguts Spessarteiche jegliche Rufe nach weiteren Stilllegungen oder Einschränkungen“ zurückweise.
Nun weiß man seit Langem, dass Aiwanger ein erklärter Gegner eines Biosphärenreservats im Spessart ist. Und natürlich ist es das gute Recht eines jeden Menschen und eben auch eines Vize-Ministerpräsidenten und Parteichefs, für oder gegen ein solches Projekt zu sein. Was Aiwanger aber allem Anschein nach nicht mitbekommen hat, ist, dass ausgerechnet die Biosphärenreservat-Pläne im Spessart nicht als Beispiel für den vermeintlichen Konflikt zwischen Städtern und Land taugen, den er so gerne beschwört. Denn die Pläne sind eine Initiative aus der Region. Genau gesagt, eine der Landkreise Aschaffenburg, Main-Spessart und Miltenberg. Außerdem ist noch die Stadt Aschaffenburg mit dabei. Das ist annäherungsweise der gesamte bayerische Spessart. Sollte das Biosphärenreservat dort tatsächlich einmal eingerichtet werden, dann außerdem nur mit ausdrücklicher Zustimmung der Gemeinden, auf deren Fluren es sich einmal erstrecken soll.
Es geht längst nicht nur um Naturschutz
Es geht auch nicht nur um Naturschutz. So wertvoll die in Teilen sehr alten Buchen- und Eichenwälder aus Sicht der Naturschützer sind, die Region könnte außerdem dringend einen Schub für eine wirtschaftlich und gesellschaftlich gute Zukunft brauchen. Deshalb hatten die Landräte Jens-Marco Scherf (Grüne) Sabine Sitter (CSU) und Alexander Legler (CSU) und der Aschaffenburger OB Jürgen Herzing (SPD) ja gerade die Idee mit dem Biosphärenreservat. Denn in so einem Biosphärenreservat wird nicht nur Wert auf Naturschutz gelegt. Sondern obendrein darauf, dass wirtschaftlich und gesellschaftlich neuer Schwung in die Region kommt. Die Biosphärenreservate in der Rhön und im Berchtesgadener Land gelten weit über Bayern hinaus als Beleg, wie das zusammengeht.
Als erfahrene Kommunalpolitiker wissen Scherf, Sitter, Legler und Herzing außerdem sehr genau, dass sie ihre Spessarter von ihrer Idee überzeugen müssen. Deshalb haben sie ein aufwendiges Verfahren aufgesetzt, damit sie Wirklichkeit werden kann. Dazu zählen nicht nur eine Machbarkeitsstudie, Infoveranstaltungen, Foren und Diskussionen. Sondern ebenso Beratungen und Abstimmungen in jedem Gemeinderat der beinahe 80 Spessart-Gemeinden. Lehnt eine Gemeinde eine Beteiligung an dem Biosphärenreservat ab, wird sie nicht dabei sein. Mehr Gemeinde- und Bürgerbeteiligung geht praktisch nicht.
Beim Abstimmungsmarathon herrscht aktuell Halbzeit. Fast die Hälfte der fast 80 Spessart-Gemeinden haben ihr Votum abgegeben. 27 wollen bei dem Biosphärenreservat dabei sein, zehn haben sich dagegen entschieden. Die 27 Gemeinden, die dabei sein wollen, repräsentieren nach Informationen der SZ schon etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung im Spessart. Die drei Landräte und der Aschaffenburger OB wollen jetzt einen Brief an Aiwanger schreiben und dem Vize-Ministerpräsidenten und FW-Chef anbieten, ihm zu erklären, was sie unter einer Politik für Gemeinden und Bürgerbeteiligung verstehen.