Vom Finsterbach zum Mississippi:Der letzte Rasso-Räuber

Der Autor Toni Drexler hat das von Brutalität und Elend geprägte Leben des Banden-Chefs Georg Müller erforscht, der vor 150 Jahren spektakuläre Verbrechen verübte und aus dem Gefängnis floh. Seine Spur verliert sich in Amerika.

Von Hans Kratzer, Hörbach

In der Nacht zum 30. Januar 1867 drangen zwielichtige Konsorten in die Wallfahrtskirche Grafrath (Kreis Fürstenfeldbruck) ein. Sie griffen nach Monstranz und Kelchen und fielen über den Schrein des heiligen Rasso her, dessen Knochen sie in einen Sack steckten. Doch bald tauchten Teile des Skeletts wieder auf. Die Diebe hatten sie ins Gebüsch geworfen, nachdem sie gemerkt hatten, dass die goldenen Fassungen unecht waren.

Seit diesem spektakulären Diebstahl sprachen die Einheimischen von den Rasso-Räubern. Die von dem Taglöhner Georg Müller angeführten Diebe und Hehler trieben ihr Unwesen beiderseits des Lechs, vor allem im Raum zwischen Mering, Landsberg und Fürstenfeldbruck raubten die Rasso-Räuber hemmungslos Gotteshäuser und Bauernhöfe aus. Bald nach dem Rasso-Coup aber gingen die meisten Mitglieder der Bande der Polizei ins Netz.

Im Frühjahr 1869 wurde 19 Frauen und Männern der Prozess gemacht. Sechs Hauptangeklagte wurden zu Zuchthausstrafen verurteilt. Der Anführer Georg Müller entkam allerdings, er floh auf einem Dampfer nach Amerika, was der Autor und ehemalige Heimatpfleger Toni Drexler bei seinen Recherchen herausgefunden hat. Im Jahr 2002 hatte Drexler im Heimatmuseum Jexhof die Ausstellung "Im Wald da sind die Räuber" kuratiert. "Seitdem ließ mich das Thema nicht mehr los", sagt er. 2007 erschien sein erstes Buch über die Rasso-Räuber, jetzt hat er ein neues Werk über den Anführer Georg Müller nachgelegt ("Vom Finsterbach zum Mississippi. Dem Schwobn-Girgl sein abenteuerlicher Weg ins Amerika", Bauer-Verlag, 17 Euro).

In den USA nennt er sich John Betzinger

Drexler entwirft ein erstaunlich detailliertes Bild von Müllers neuer Existenz in Amerika. Er zeichnet etwa nach, wie Müllers Ehefrau und vier Kinder ihm dorthin folgten, wo die Familie unter dem Namen Betzinger ein neues Leben begann. Nur am Ende verliert sich die Spur von Georg Müller alias John Betzinger. Drexler schrieb die Geschichte deshalb als historische Erzählung fort, in der er die durch Akten und Zeitungsberichte gesicherten Fakten mit der Fiktion verknüpft und überzeugend schildert, wie es wohl gewesen sein könnte.

Die Familie Betzinger gibt es in Amerika bis heute. Gut belegt ist das Leben von Müllers Sohn George, der mit seiner Familie in Wisconsin lebte, wo er als Waldarbeiter tätig war. Er starb 1926 und soll bis zum Tode kein Wort Englisch gesprochen haben, obwohl er seit dem 6. Lebensjahr in Amerika weilte. Dass heute in den USA zahlreiche Nachfahren von Georg Müller zu finden sind, belegt, welch große Ausschläge die Fieberkurven der Lokalgeschichte oft nehmen.

Drexler, ein Mann mit vielen Begabungen, denkt weit über den lokalen Horizont hinaus. Sein neues Buch ist auch als Summe seiner Erfahrungen mit dem Thema Heimat zu betrachten, speziell mit dem Haspelmoor, wo einst das Elend die Entstehung von Räuberbanden begünstigte. "Erst mit 200-jähriger Verspätung kamen in den 1960er-Jahren einige Lichtstrahlen der Aufklärung bei uns an", schreibt er im Nachwort. Trotzdem hadert er nicht: "Hier ist meine Heimat mit all ihren Schönheiten und Schattenseiten. Hier bleibe ich!" - ganz im Gegensatz zum Räuberhauptmann Georg Müller.

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